Jahrhunderte gibt es schon Zeitungen. Aber jetzt erst, erst jetzt ist eine auf die Idee gekommen, sie für ihre Leser zu machen! Wow! Autos für Autofahrer gibt es schließlich auch schon eine Weile, Lebensmittel für Fresssäcke, Luft für Atmer. Aber eine Zeitung für Leser, darauf muss man erst mal kommen! In unserem Fall war es Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Na gut, eigentlich meinte er keine „Zeit für Leser“, sondern eine „Zeit für Schreiber“, denn die zahlenden Leser sollen ihr Blatt nun selber füllen. Selbstredend nicht mit den Inhalten, die ihnen Spaß machen — soviel Zutrauen haben die Sachwalter der Zeit in ihre Leser denn auch nicht! — , sondern mit dem, was die Redakteure der Zeit von ihren Lesern gerne lesen möchten:
Leser bitten DIE ZEIT, einem Prominenten (Politiker, Star, Sportler…) schöne Grüße zu bestellen: Vom persönlichen Rat über die Stilkritik bis zum politischen Einspruch. Aber kurz, knapp, pointiert: Maximal 3 Sätze oder 500 Zeichen.
Ach so, Platz ist für die Leser der Zeit auch nicht: Maximal 500 Zeichen. Dann vielleicht doch lieber Zeichensprache?
ZEIT-Leser dichten gern. Auf der „ZEIT der Leser“ allerdings sind vor allem Haikus gefragt: Ein dreizeiliges Gedicht mit fünf, sieben und fünf Silben pro Zeile. Und unbedingt zu einem aktuellen Thema.(…)
Bei der Gerichtsverhandlung, in der Vorlesung, während des Telefonats, in der stinklangweiligen Konferenz: Gekritzelt wird immer. Wir bitten die Leser, uns ihre schönsten Kritzeleien zu zeigen und zu erzählen, wie und wann sie entstanden sind.
Stinklangweilige Konferenzen? Ja, so stellt man sich die Zeit vor. Besonders wenn einer der Herausgeber das Wort ergreift. Das Ganze verpackt in ein Layout, das wir zu Schülerzeitungszeiten kaum gruseliger hinbekommen hätten, so als ob der Einsatz von Schmuckschriften seit Etablierung von Desktop Publishing selbst in Vereinsblättchen nicht unter drei Tänzchen mit der Gattin des Vereinsvorsitzenden bestraft würde. Soll wohl lustig sein? Ach so, wirklich. O-Ton Chefredakteur:
Die Idee zu „Die Zeit der Leser“ ist noch älter und kommt aus den 80er Jahren. Ich hatte damals etwas Vergleichbares in einer italienischen Satire-Zeitschrift gesehen; das hat mich nachhaltig fasziniert. Die hatten auch eine Rubrik, die wir bei der Zeit natürlich nicht machen können: Sie haben das Protokoll eines abgehörten Telefongesprächs abgedruckt. Bei der Lektüre dieser Seite wurde mir klar, welch unfassbaren Reichtum es in der Welt der Leser gibt.
Welch unfassbarer Reichtum in der Welt der Leser: Ihre Abhörprotokolle direkt im Anschluss an die zweite neue Rubrik „Glauben und Zweifeln“! Fehlt nur noch das „Aufstöhnen der Woche“, „Meine schönsten Popel“ und „Briefe über Deutschland“. Halt, nein, die gibt es natürlich: Ein 68-jähriger Friedrich Engels oder Engelke oder so darf seinem Stiefsohn Julian, 30 („Umweltberater aus Montreal“) im „wöchentlichen Wechsel“ schreiben. Ein Wechsel war früher ein Schuldschein, und entsprechend dürftig ist, was der gute Engels oder Engelke zu schreiben hat. Naja, über Deutschland, an den Umweltberater, in Montreal, wen wundert’s? Schon Marx und Engels warnten ja vor Leuten, die andere Leute als „Mommy“ bezeichneten und selbst ihre Briefe mit „Dein Rich“ unterschrieben. Ganz ehrlich, man möchte vom Zweifeln abfallen.
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