Der „Prozess des Jahrhunderts“ — bleibt für mich immer noch der „Process“ von Franz Kafka. Was aber, bitte, ist der „Prozess des Jahres“, den wechselweise alle Sumpfblätter dieser Republik konstatieren?
www.bild.de/BILD/news/2010/09/…/landgericht-mannheim-ticker.html
www.stern.de/…/der-fall-kachelmann-startschuss-fuer-den-prozess-des-jahres-1599969.html
www.bz-berlin.de/…/um-9-uhr-tritt-kachelmann-heute-vor-seinen-richter-article969803.html
Ist der Strafprozess, der Montag in Mannheim gegen einen TV-bekannten Wettermoderator begann, juristisch wegbereitend? Hat er für irgendeinen Menschen außer den Prozessbeteiligten weitergehende Auswirkungen? Gar einen gesellschaftlichen oder politischen Effekt? Wohl kaum. Einzig der Umstand, dass eine bekannte deutsche Frauenrechtlerin ihr Werbeengagement für Deutschlands heruntergekommenstes Blatt mittels einer mutmaßlichen Vergewaltigung ausdehnt, ist notabel. Aber es handelt sich dabei nicht um den Prozess, sondern um die Presseposse des Jahres. Einst hat man mal Skribenten den Prozess gemacht, wenn sie unhinterfragt irgenwelchen Unsinn abschrieben. Dass auch im Unsinn der Sinn steckt, geht in der Gesamtschau boulevardesker Medienerzeugnisse beinahe unter.
Das Pöbliversum der „Bunten“
Wer sich über die boulevardesken Erscheinungen, über die Hirnverbranntheit all der „Brisant!“, „Prominent!“, „Blizz“, „Gala“ etc. echauffiert, der sollte nicht vergessen, dass es auch noch viel schlimmer geht, und dass das Schlimme einen Namen hat: Die „Bunte“. „Leidenschaft für Menschen“ untertitelt sich das Magazin selbst, dabei die Wörter „Leidenschaft“ und „Menschen“ in unerträglicher Art besudelnd. Als hässliches Entlein geboren, hat die Illustrierte auch nach ihrer Umwidmung vom Gossenhauer zum „People-Magazin“ sich nie in einen Schwan verwandelt. Und das englische Wort „People“ kann seine etymologische Verwandtschaft mit dem vulgären „Pöbel“ auch nicht verhehlen, wobei im Bunte-Pöbliversum nicht die Leserschaft, sondern die abgebildete Pseudo-Haute-Volée als solchen sich begreifen darf. Kein herangezoomtes Paparazzi-Foto ist zu schlecht, um nicht für viel Geld in gröbster Körnung in der Pöbelpoblikation pobliziert zu werden. Kein illegal ergattertes Oben-ohne-Foto ist ohne genug, kein tief ausgeschnittener Ausschnitt zu tief, um mit der Niedrigkeit der Beweggründe der „Bunte“-Macher mithalten zu können, die in an Verquastheit kaum zu überbietender moralischer Reziprozität mit jedem hingeschmierten Wort den Bildinhalt zu konterkarieren versuchen:
Salma war noch nie die Stilkönigin unter den Hollywood-Schauspielerinnen, aber dieses Outfit ist nun wirklich der Knaller – es quillt. Sie hätte das Lederjäckchen ruhig drei Nummern größer wählen können!
Wenn die „Bunte“ in der Causa Kachelmann eine vorgebliche „Ex-Geliebte“ nach der anderen einvernimmt, bekennt sie sich nicht so sehr zu ihrer „Leidenschaft für Menschen“, als zu eben jener für den Sudel, der am eigenen Medien-Kotflügel hängen bleibt. Leiden müssen nur die anderen. Zum Beispiel jene Politiker, denen die „Bunte“ von einer Detektivagentur nachstellen und auflauern ließ, um jenen schmierigen Fischzug im Privatleben im nachhinein als „investigativen Journalismus“ auszugeben. Einsicht und Scham ist solchen Leuten, allen voran der aktuellen Chefredakteurin Patricia Riekel, unbekannt. Sie, die ihren eigenen Berusethos mit den Worten „Wir sind ja kein Streichelzoo“ umschreibt, lässt sich zitieren mit:
Wir beschäftigen uns mit den Schicksalen der anderen, weil wir daraus lernen wollen.
Die „Bunte“ als Organ der Volkserziehung? Die Probe aufs Exempel wäre ein journalistischer Pisa-Test, bei dem die „Bunte“-Redaktion mitsamt ihrer Chefredakteurin vermutlich in ähnliche Schieflage geriete wie der gleichnamige Turm. Wer den guten alten Klatsch-Reporter zum „Society-Experten“ geadelt hat, muss selbst einen an der Klatsche haben. Wo man einer Illustrierten wie der „Gala“ in all ihrer Dümmlichkeit noch postpubertären Charme nachsagen kann, dem „Goldenen Blatt“ seine grenzenlos naive Attitüde und selbst die „Bildzeitung“ bei einigen als „surreales Kunstwerk“ (Enzensberger) durchgeht, da bietet die „Bunte“ nur barocke Fülle, nämlich eine Fülle von Trostlosigkeit. Wessen Konterfei einmal in der „Bunten“ auftaucht, der ist dem Untergang geweiht, wenn er nicht ohnehin schon zu den Untoten dieser Republik zählt. So geschah es etwa dem Politiker-Darsteller Rudolf Scharping, der sich erst von der „Bunten“ beim Bade ablichten ließ und dann baden ging. Nein, wessen Foto in der „Bunten“ erscheint, der kann sich gleich erschießen. Oder den Fotografen.