Die zur Zeit erfolgreichste Fernsehserie im türkischen Fernsehen heißt „Fatmagül’ün Sucu Ne?“ die seit dem 16. September 2010 im türkischen Privatsender Kanal D immer donnerstags zur besten Sendezeit um 20:00 Uhr zu sehen ist. Womit „Was ist Fatmagüls Verbrechen?“ punktet und fast ein Drittel aller türkischen Fernsehzuschauer vor der Mattscheibe vereint, ist: eine Vergewaltigung. Karen Krüger schreibt dazu in der F.A.Z.:
Ein Drittel aller türkischen Zuschauer versammelte sich am Abend des 16. Septembers vor dem Fernseher und schaute zu, wie drei Männer eine junge Frau namens Fatmagül vergewaltigen. Die Szene dauerte ganze vier Minuten. Sie ist seitdem tausendfach im Internet abgespielt worden. Die türkischen Kommentare lesen sich, als sei die vergewaltigte Fatmagül die Königin von Porncity.
Die Geschichte handelt von einem Mädchen vom Lande, Fatmagül, das von drei reichen Schnöseln aus Istanbul und einem Einfaltspinsel vom Lande namens Kerim drangsaliert wird. Nach der Gewalttat, die nicht nur in der Serie selbst, sondern auch in Programmtrailern rund um die Uhr den türkischen Fernsehzuschauern serviert wird, soll Kerim, der selbst zu betrunken für eine Vergewaltigung war, das Mädchen heiraten. Fatmagül wird gezwungen zu sagen, sie habe die Tat inszeniert, um ihre Affäre mit Kerim zu vertuschen. Dabei liebt sie in Wahrheit einen anderen, den Fischer Mustafa.
Die Story geht zurück auf den gleichnamigen Roman des Schriftstellers Vedat Türkali, der 1986 mit Hülya Avsar in der Hauptrolle bereits einmal verfilmt wurde. Roman und Film haben die gleiche Stoßrichtung, nämlich dass in der türkischen Gesellschaft im Falle von Vergewaltigungen die Schuld häufig beim Opfer gesucht wird. Doch von diesem Impetus blieb nicht mehr viel übrig, nachdem der Privatsender Kanal D sich des Stoffs angenommen hat. Die Kritikerin Karen Krüger:
Wären die Produzenten der Romanvorlage gefolgt, dann zeigte die Serie, wie Fatmagül, die Unschuldigste von allen, die Beschuldigte wird. Statt dessen rücken sie immer wieder Fatmagüls Vergewaltigung in den Mittelpunkt. Und befriedigen damit jene Machomentalität, die Türkali in Frage stellte und die bis heute in Frage zu stellen ist, denn Fatmagüls gibt es zu Tausenden in der Türkei. Laut einer Studie des türkischen Instituts für Sexualgesundheit haben vierzig Prozent der türkischen Frauen schon einmal Gewalt erfahren, zwanzig Prozent von ihnen sexuelle.
Was aus dem einst kritischen Anliegen der literarischen Vorlage geworden ist, erahnt man, wenn man liest, dass es mittlerweile in Istanbul Unterwäsche zu kaufen gibt, auf denen der Titel der Serie zu lesen ist. Es soll Fatmagül-Sexpuppen geben, mit denen man zu Hause die Vergewaltigung nachspielen kann. Auch soll ein Online-Spiel existieren, bei dem die User eine Comic-Fatmagül ausziehen können. Kürzlich gar habe ein Kabarettist Fatmagüls Vergewaltigung nachgespielt: Die Täter wurden dabei als Sportler dargestellt, der Kabarettist kommentierte deren „Treffer“. Und zu unguter Letzt soll ein Computerspiel mit dem Titel „Lauf, Fatmagül, lauf!“ erschienen sein, bei dem der Spieler Fatmagül darstellt und fünf Männern entwischen soll: „Packt einer der Verfolger das Mädchen, dann fängt sie an zu schreien – Spiel zu Ende, nächster Level nicht erreicht“. Im Internet findet sich die Vergewaltigungssequenz inzwischen auf hunderten von Seiten, allein bei Youtube haben sich mehr als dreißigtausend Nutzer das Video angesehen.
Die Fernsehserie „Fatmagül’ün Sucu Ne?“ ist aber nur der Endpunkt einer Entwicklung gewalttätiger Sexualisierung des türkischen TV-Programms:
Zappt man in der Türkei durch das abendliche Fernsehprogramm, dann begegnen einem unweigerlich Frauen, die von einem Mann geschlagen werden; die von einem Mann ans Bett gefesselt worden sind; die weinen, während sich ein Mann mit lustverzerrtem Gesicht über sie beugt. Meistens sagt er unsinnige Sätze wie: „Wehr Dich nicht, ich liebe Dich“ oder „Wehr Dich nicht, gleich gefällt es auch Dir“. Das türkische Fernsehen zeigt oft und gerne Gewalt, vor allem zeigt es Gewalt gegen Frauen. Die Einschaltquoten verraten, dass die Zuschauer nichts dagegen haben. Im Gegenteil: Was sie da sehen, gefällt.
Auch wenn die Diagnose deutlich auf türkischen Machismo gepaart mit islamischer Vorgestrigkeit hindeutet, eignet sich das Beispiel „Fatmagül’ün Sucu Ne?“ nicht für den vielzitierten Kampf der Kulturen. Denn im Fernsehen anderer Länder und auch Deutschlands sieht es nicht so viel anders aus.
Nicht nur das türkische Fernsehen vergewaltigt
Manchmal wirken die Fernsehleute sogar bei der Vergewaltigung mit: Wie bei Spiegel Online zu lesen war, hat der bolivianische Sender Red Uno eine Vergewaltigung im Fernsehen gezeigt und so für landesweite Proteste gesorgt. Eine Pressevereinigung erhebt schwere Vorwürfe: Nur um eine exklusive Story zu bekommen, hätten die beteiligten Journalisten dem Opfer nicht geholfen.
Das deutsche Fernsehen vergewaltigt noch nicht selbst, aber es guckt auch gerne zu dabei. Denn die Sexualisierung des TV-Programms, und zwar des fiktionalen wie des non-fiktionalen, ist soweit fortgeschritten, dass Vergewaltigungen unter den Programmmachern zu den gesellschaftlich akzeptierten Sexualpraktiken zu zählen scheinen, mit denen man Quote machen kann.
Mit dem Film „Die Frau des Heimkehrers“ versuchte die ARD bereits im Jahr 2008, Vergewaltigungen in den Kernbereich öffentlich-rechtlichen Programmauftrags zu integrieren und dem Familienunterhaltungsprogramm (Sendetermin: freitags um 20:15 Uhr) einzuverleiben. Man darf wohl als Substrat dieses Streifens nehmen, womit die Bild-Zeitung dessen Inhalt sehr zupackend beschrieben hat:
„Sie schreit, heult, wehrt sich, als er wie ein Tier über sie herfällt: ihr eigener Ehemann! Er zerreißt ihr die Bluse, schmeißt sie aufs Bett – und demütigt seine Frau zutiefst …“
Wer hier noch von Spiel-Film redet, muss selbst durchs Fernsehen schon traumatisiert sein und verdrängt haben, was Friedrich Schiller einst übers Spiel sagte, nämlich dass der Mensch überhaupt nur Mensch sei, wo er spiele. Die im Fernsehen vorgeführten Vergewaltigungen sind aber der Ernstfall, wie Hauptdarstellerin Christine Neubauer wiederum der Bild-Zeitung zu Protokoll gibt:
„In dem Moment ist nichts mehr gespielt! Da denke ich nicht mehr: ,Wie sieht das jetzt für die Kamera aus?‘ Was zählt, ist das Gefühl für das, was geschieht. Ich erlebe dann alles, als wenn es real passiert!“
Diese Vergewaltigung wurde im Mai 2010 in der ARD wiederholt. Mit schönem Programmerfolg.
Auch das Aktenzeichen xy des ZDF übt mit Entsetzen Scherz und bemüht Vergewaltigungen für diese pikante Art der Zuschauerbindung. In der Sendung vom 05.01.2010 bekommt der Zuschauer folgendes zu sehen:
Der 18. Januar 2009, ein Sonntag: Gegen 10 Uhr, die Kirchenglocken läuten, macht sich die junge Mutter in Hostedde auf den Weg zum Bäcker. An der Derner Bahnstraße greift ein unbekannter Mann die 30-Jährige an. Mit gezogenem Messer drängt er sie in einen roten VW-Polo älteren Baujahrs. Dann fährt er los. Auf einem Parkplatz nahe des Dortmunder Hauptfriedhofs vergewaltigt er die junge Frau mehrere Male. Danach fährt der Täter sein Opfer zurück nach Hostedde und lässt es frei. Das schwere Trauma der 30-Jährigen wird erst auf der Polizeiwache deutlich. Bei ihrer Vernehmung kollabiert die junge Frau.
Man sieht die Szene förmlich vor Augen, auch deswegen, weil man an diese Form schlecht inszenierter Dokusoaps aus dem schmierigen Bereich längst gewöhnt ist. Natürlich werden Redaktion und der ausstrahlende Sender behaupten, dass die Ausstrahlung ja nur der Verbrechensbekämpfung diene und darum im Interesse des Gewaltopfers sei. Aber Dreistigkeiten dieser Art behauptet das ZDF seit 30 Jahren, wenn man Aktenzeichen xy kritisiert, und das macht es nicht besser. Denn das Fernsehen dient nie irgendwelchen Opfern (dazu wäre es auch nach den eigenen Programmgrundsätzen gar nicht berechtigt), sondern nur sich selbst und der eigenen Zuschauerquote. Und da mit „Sex sells“ alleine eben in Zeiten überhaupt nichts mehr zu verkaufen ist, wo das Wort „Porno“ unter Jugendlichen zum Ausdruck positiver Emphase dient, muss auch das ZDF eine Schippe drauf legen und die härtere Gangart wählen. Mit dem Zweiten vergewaltigt sich’s besser …
ARD-Tatort-Vergewaltigungen sind die schönsten
Höhepunkt in dieser Reihe fernsehprogrammatischer Tiefpunkte ist der jüngste ARD-Tatort aus München vom vergangenen Sonntag: „Nie wieder frei sein“, die Geschichte einer Vergewaltigung mit anschließender Justizposse. Dass die ARD sich vermutlich für mutig hält, womöglich sogar für ein bisschen frivol, weil der Film um 20:15 Uhr mit der Entblätterung des Vergewaltigungsopfers beginnt, obwohl es doch nur abgefeimt ist, gehört zu den erwartbaren Bigotterien von Programmverantwortlichen, denen die Geschmacksgrenzen verrutscht sind. Hätte dieser Film wirklich ein Lehrstück zum Thema „Recht ist nicht Gerechtigkeit“ sein sollen, wie die Ankündigung des veranstaltenden Bayerischen Rundfunks suggeriert, dann hätte man den Drehbuchautor doch wenigstens eines der im Fernsehen so häufig angeführten „Coachings“ mit einem Rechtsexperten angedeihen lassen können. Allein was diese Folge an juristischem Nonsens verbreitet, lässt einen am staatsbürgerlichen Unverständnis der Mitbürger nicht mehr Wunder nehmen. Das Königlich-bayerische Amtsgericht jedenfalls wies mehr prozessrechtlichen Sachverstand auf als diese Produktion. Aber darum ging es ja auch nicht. Es ging um den „thrill“, den Vergewaltigungen offenbar neuerdings im Fernsehen auslösen, seit man bei ARD und ZDF gerne auch wieder Zuschauer diesseits der Potenzgrenze gewinnen möchte. Und dass aus dem Spiel längst Ernst geworden ist, zeigt auch der Umstand, dass die beiden Hauptdarsteller Nemec und Wachtveitl auch nach beinahe 20 Jahren als Serienkommissare und trotz oft großartiger Sidekicks mit hervorragenden mimetischen Fähigkeiten immer noch kein Quäntchen Schauspielerei gelernt haben. Aber das verspielt sich, Hauptsache, das Vergewaltigungsopfer macht seine Sache gut. Und der traumatisierte Zustand der Zuschauerschaft bis weit in die Kritikerzunft hinein beweist sich auch darin, dass ausgerechnet die Internetseite „evangelisch.de“ den Vergewaltigungs-Tatort zum „TV-Tipp des Tages“ erkoren hat:
Gerade die ersten Bilder wie auch die unverblümte drastische Wortwahl während des Prozesses lassen den ausgezeichneten Film aus Jugendschutzperspektive allerdings mindestens grenzwertig erscheinen. Und das Ende der emotional so plausiblen Geschichte wirkt etwas konstruiert. Davon abgesehen: ein herausragender „Tatort“.
Und die Filmkritiker von der Boulevardpresse stellen der vergewaltigten Schauspielerin Anna Maria Sturm (28) auch nicht die naheliegende Frage nach den etwaigen sexuellen Nöten der ARD-Programmverantwortlichen selbst, sondern danach, wie es denn so gewesen sei, nackt vor der Kamera: „Eine echte Herausforderung“, lässt die Schauspielerin durch ihre Agentin ausrichten. Immerhin lässt die Jungschauspielerin durchschimmern, dass sie genau weiß, was sie von der Lüsternheit ihrer Vertragspartner bei der ARD zu halten hat:
Sicherheitshalber hatte Anna Maria vertraglich geregelt, dass nicht zu viel Intimes zu sehen war.
Nota bene: Da ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen angekommen, dass, wer sich ihm beruflich nähert, sich einen Kernbestand an Intimität schon vertraglich zusichern lassen muss. Wen wundert’s da noch, dass ein Thema wie der Strafprozess gegen einen mutmaßlichen Vergewaltiger, den ARD-Wetterjournalisten Jörg Kachelmann, auf den fruchtbaren Boden „zeitgemäßer“ journalistischer Aufarbeitung fällt: Als Sensationsposse. Und wenn die ARD sich hier auch, anders als andere Medien, eine Zurückhaltung auferlegt, weil sie gegenüber dem Schweizer Wettermann noch zu einem Gefühl fähig ist, dass sie für sich selbst längst abgeschrieben hat, nämlich Scham, kann sie doch das Mausen nicht lassen, eine ganze lange „Anne Will“-Sendung lang: „Justiz-Alltag oder Promi-Pranger?“wird am 02.08.2010 in der ARD gefragt. Man belässt es aber bei der Frage. „Ein Urteil oder eine Antwort auf die Frage des Abends liefert Wills Fernsehgericht nicht“, konstatiert auch die Süddeutsche Zeitung. Denn dass Journalisten Fragen stellen, um Antworten zu erhalten, diese Zeiten sind auch in der ARD passé. Hauptsache, man hat darüber geredet. Über die Vergewaltigung. Aufklärung für Abgeklärte.
Küssen verboten im türkischen TV
Zurück zur türkischen Erfolgsserie „Fatmagül’ün Sucu Ne?“ Türkische Frauenorganisationen und Kolumnisten haben kritisiert, dass „Was ist Fatmagüls Verbrechen?“ die Vergewaltigung legitimiere. Sie forderten, die Serie einzustellen, blieben aber bisher erfolglos. Die Fernsehaufsichtsbehörde sieht Handlungsbedarf woanders:
Im Mai verwarnte sie einen Fernsehsender wegen einer Parfümwerbung, in der eine sich auf einer Yacht im Bikini sonnende Frau einen Mann in Badehose küsst. Das sei obszön, urteilte die Behörde und erinnerte daran, dass nichts gesendet werden darf, was die mentale Entwicklung von Minderjährigen beeinträchtigt – Vergewaltigung gehört offenbar nicht dazu. (F.A.Z.)
Der „Kampf der Kulturen“ schmilzt hier zusammen auf mikroskopisch kleine Unterschiede in der Grenzziehung medialer Freizügigkeiten. Man erinnere sich nur an die Aufregungen über den ersten schwulen Fernsehkuss in der Lindenstraße. Die türkische Frauen- und Familienministerin Selma Aliye ist berühmt geworden durch ihre Aussage, Homosexualität sei eine Krankheit. Nun hat sie in der Türkei das Küssen in Fernsehserien als unmoralisch kritisiert. In Sachen Bigotterie kann sie es mit deutschen Fernsehprogrammatikern aufnehmen. Gefragt nach ihrer Lieblingssendung, soll die AKP-Ministerin geantwortet haben: „Tal der Wölfe“. Das ist jene ultranationalistische Serie, in der in jeder Folge die Fäuste fliegen. Und in der auch vergewaltigt wird.
Türkische Fernsehserie: Wehr dich nicht, gleich macht es dir Spaß – Fernsehen – Feuilleton – FAZ.NET