Archive for Juni 4th, 2011

Wer Flashmob sät, wird Mob ernten


04 Jun

Unfälle begleiten das Leben, sind aber bislang hauptsächlich aus dem Straßenverkehr oder in Haushaltssituationen bekannt (NB: Dass die staatliche Finanzsituation als „Haushaltsunfall“ von wortspielaffinen Journalisten  bezeichnet würde, ist vermutlich nur eine Frage der Zeit). Jetzt gibt es „Unfälle“ auch im Web 2.0, was der Metapher von der Daten-Autobahn weiter Futter gibt: Vom „Facebook-Unfall“ ist die Rede, weil ein 15-jähriges Hamburger Mädel zum Geburtstag auf Facebook gleich die gesamte Netz-Community eingeladen hat. Verunfallt sei sie, weil es mutmaßlich unabsichtlich geschah. Der Unfall wird gleichzeitig auch als „Party“ bezeichnet, für manche aber auch für eine „Panne“ gehalten. 14.000 Facebook-Nutzer sollen sich nach Meinung einiger Journalisten für das Fest angemeldet haben, andere gehen von 15.000 Festgästen aus, oder waren es doch, wie das gleiche Blatt vermeldet, 16.ooo Leute? Oder unter Umständen, wie eine Zeitung der gleichen Verlagsgruppe meint, nur 7.000? Egal, gekommen sind dann jedenfalls hunderte. Oder eventuell auch tausend. Oder, wie ein Nachrichtensender weiß, 1.500 Geburtstagsgäste. Nein, pardon, es müssen 1.600 Gäste gewesen sein, verlautbart eine andere Zeitung. Die Party fand übrigens in Wahrheit gar nicht statt, da sie zuvor abgesagt worden ist, wie mancherorts zu lesen ist. Die dennoch kamen, taten es auf die prosaischste Weise: „Sie kamen mit Bussen und Bahnen, mit dem Auto und zu Fuß“, ist irgendwo zu lesen. Auch über den weiteren Verlauf der Festivität ist verschiedenes bekannt geworden: Einige melden, dass von den hundert bis 1.600 Gästen zuerst „friedlich gefeiert“ worden sei. Andere berichten, es „ging vor Thessas Haus ordentlich die Post ab“. Die F.A.Z. weiß von „Ausschreitungen“ und kolportiert: „Es flogen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper. Partygäste nahmen Vorgärten auseinander, Zäune wurden niedergetrampelt“. Wurden nun „bengalische Feuer“ gezündet oder, wie das Hamburger Abendblatt weiß, „Steine und Böller“ geschmissen? Am Ende kam es gar, wie heute.at meldet, zu „Verwüstungen ihres Elternhauses“. Und auch Spiegel Online weiß zu berichten, dass es zu „Festnahmen und Verwüstungen rund um das Elternhaus“ gekommen sei, wobei noch zu klären wäre, ob es im Rahmen der „Festnahmen rund um das Elternhaus“ zu handschellenbewehrten Zwangsabführungen von Stiefmütterchen und Azaleen gekommen ist.

Der 16. Geburtstag: „Das war und ist traditionell ein wichtiges Datum im Leben eines Teenagers“, philosophiert das Hamburger Abendblatt und dichtet weiter: „Das Szenario ist fast so alt wie Facebook selbst: Ein angehendes Geburtstagskind plant eine Party …“ So alt wie Facebook selbst: Das sind dann ja schon stramme sechs Jahre, also beinahe biblisch.

Was immer sich dort in Hamburg ereignet haben mag: Zeitungsleser und Online-Newsportalleser werden es nie erfahren. Denn offenkundig war keiner derjenigen Journalisten, die darüber geschrieben haben, selbst vor Ort und hat sich ein Bild gemacht. Es ist eine Berichterstattung vom Hörensagen und vom Abschreiben, sie lebt von eigenem Dazutun, dichterischer Ausschmückung, Übertreibung und reicht bis zu grober Fälschung. Ein Unfall fürwahr, aber keiner auf Facebook, sondern einer im deutschen Blätterwald. Wer Flashmob sät, wird Mob ernten: Aber nicht den feiernden, sondern den schreibenden.

Fernsehfriedhof: Der Anrufsender 9Live lässt’s nicht mehr klingeln


04 Jun

9live_bilderraten__1385812p“Kein Schwein ruft mehr an”, titelt geistreich die heutige tageszeitung (taz) zum Ende des Anrufsenders 9live, der seit vergangenen Mittwoch zwar immer noch auf Sendung ist, seines Hauptsendeinhalts  aber verlustig gegangen ist, nämlich der Veranstaltung unsäglicher Anrufspielchen, die menschlichen Geist und Portemonnaie gleichermaßen beleidigten. Fernsehgeschichte hat 9live dennoch geschrieben: Es handelte sich um den ersten privaten Fernsehsender Deutschlands, der seinen Erfolg nicht mehr an Einschaltquoten maß, sondern an Anruferzahlen. Denn mit denen verdiente der Sender sein Geld, wie quotenmeter.de drastisch darstellt:

Um diese möglichst hoch zu halten, entwickelten die Verantwortlichen immer neue Spiele, Bilderrätsel und Aufgaben, die es für die Zuschauer zu lösen gab. Dabei standen stets zwei Varianten besonders im Fokus: Entweder war die Frage sehr einfach, aber die Durchstellung eines Kandidaten dauerte ewig oder die Aufgabe war schier unlösbar, weil es zu viele mögliche Antworten oder einen unklaren Lösungsweg gab. Nicht zuletzt wegen diesen Methoden stand der Sender fast pausenlos in der Kritik. Betrug, Erschleichen von Telefongebühren, unzulässiges Antreiben der Anrufer und vieles mehr wurde den Machern vorgeworfen, die immer wieder mit konzeptionellen Änderungen und Warnhinweisen gegenzusteuern versuchten.

“Transaktionsfernsehen” nannten das seine Macher. Gemeint können damit auch die Banktransaktionen der Einspielergebnisse auf die Bankkonten der Eigentümer sein. Denn erfolgreich war der Sender durchaus, jedenfalls kommerziell. Über Jahre war das Programm die Cashcow der ProSieben-Sat1-Gruppe.  Dass 9live allerdings aus “tm3” hervorgegangen ist – der erste ausgewiesene reine “Frauensender”, der mit durchaus avantgardistischen Elementen Zielgruppenfernsehen machen wollte – demonstriert nachhaltig, wie schnell man im deutschen Fernsehen wie tief sinken kann (man erinnere sich nur an das traurige Schicksal von “Vox”). Die Welt stellt dar, welchen Lauf die geschäftliche Entwicklung endlich nahm:

Seit der Verschärfung der Regeln für TV-Gewinnspiele wuchs die Zahl der Verfahren, während die Umsätze des Senders schrumpften – allein im ersten Quartal 2011 gingen sie um gut ein Drittel auf 9,2 Millionen Euro zurück.

Seit vergangenem Mittwoch hat es sich ausgeklingelt. Fortan zeigt 9live brave und biedere Serien in Wiederholung. Die taz wundert sich:

Jetzt hat der Sender seinen "Live-Betrieb", so die Umschreibung für die schlichtmoderierten Zock-Formate, eingestellt. Seit Mittwoch spielt 9Live brave TV-Konserven aus dem Konzernarchiv und macht damit zum ersten Mal so etwas wie – Programm.

9Live jetzt ohne Telefongewinnspiele: Kein Schwein ruft mehr an – taz.de

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter