Archive for Juni, 2011

Die Volkszählung übertreibt wieder einmal


08 Jun

Volkszählung kurios: Wie der Trierer Volksfreund berichtet, übertreiben die statistischen Landesämter deutlich in ihrem eisernen Willen, die Daten von Millionen Bundesbürgern auszuspähen. Nicht genug, dass die Auserwählten und alle Hausbesitzer verpflichtet sind, sich an dem Zensus zu beteiligen: Das Ausfüllen kann, wie im Fall einer Familie aus der Eifel, in richtig viel Arbeit ausarten:

Damit hat Elke Daleiden beim besten Willen nicht gerechnet. „Ich war total verdutzt, als ich die Päckchen geöffnet hab’“, erzählt die in Speicher lebende Hausbesitzerin. Denn statt eines dünnen Zensus-Briefs vom Statistischen Landesamt in Bad Ems erhielt sie vier dicke Pakete – mit insgesamt 224 Fragebögen für die Gebäude- und Wohnungszählung. Für fast jedes Haus in der Speicherer Ringstraße. Nur nicht für die Objekte, die ihr tatsächlich gehören.

Selbst eine so offensichtliche Datenpanne kann aus den Betroffenen richtiggehend Benachteiligte machen.

Auf der Zensus-Seite im Internet steht: „Sofern Ihnen mehrere Fragebogen für ein und dasselbe Gebäude oder Wohnung zugestellt wurden, bitten wir Sie um folgendes Vorgehen: Senden Sie trotzdem alle Fragebogen zu diesem Objekt zurück.“Bei 224 Bögen würde das jede Menge Zeit beanspruchen.

Das Landesamt wollte ihr aber entgegenkommen und forderte sie auf, lediglich die Fragebögen zu den Häusern in ihrem Eigentum einzuschicken. Doch das ging eben auch nicht: Für ihre eigenen Objekte hatte sie ja ausgerechnet gar keine Fragebögen erhalten.

Wie sensationell ist EHEC wirklich?


07 Jun

Und noch mal EHEC: Die bakterielle Erkrankung scheint so sensationell, dass Tageszeitungen sogar Live-Ticker einrichten zu müssen glauben. Doch ist sie das wirklich? Wie neu ist denn dieses coli-Bakterium und die damit verbundene Krankheit? Der Internetdienst Statista.de (der mit dem Wirtschaftsmagazin brand.eins verbändelt ist) hat dazu die Statistik des Robert Koch Instituts veröffentlicht. Die Statistik erfasst EHEC-Fälle seit dem Jahr 2002. Offensichtlich ist, dass die Erkrankung nicht neu ist und auch die Zahl der Fälle im laufenden Jahr nicht das Niveau der Vorjahre überdeutlich überstiege. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das laufende Jahr eben noch nicht beendet ist und bei einer epidemischen Ausbreitung der Krankheit die Fallzahlen doch noch signifikant über denen der Vorjahre liegen könnten. Außerdem ist zu erwähnen, dass die Zahl der Todesopfer durch die Krankheit (bislang 10) über denen der Vorjahre liegt, wo die Krankheit offenbar abgeschwächt auftrat. Doch von solcherart Differenzierungen ist in der Berichterstattung der deutschen Tagespresse auffällig wenig zu lesen. Dafür beglückt uns das österreichische Magazin Profil mit folgender Schlagzeile:

EHEC-Erreger ist tödlicher als seine Vorgänger

Tödlicher als tödlich: Das bringt nur die Presse fertig.

EHEC-Live-Ticker: Der Keim gibt den Takt an


06 Jun

Der Liveticker ist, wenn man so will, die genuine Hervorbringung des Onlinejournalismus. Zwar kennen auch Fernsehnachrichtenkanäle wie n-tv oder N24 durchlaufende („scrollende“) Nachrichtenbänder, und bei Wirtschaftsprogrammen wie Bloomberg-TV ist der Live-Ticker quasi Lebensprinzip. Aber zu publikumswirksamer Reife hat es der Live-Ticker erst im Internet gebracht. Der Live-Ticker ist es, der Sportereignisse und Atomkatastrophen miteinander verbindet. In der dem Journalismus eigenen Sucht, eilig zu sein, soll die einkommende Nachricht möglichst ohne jede Zeitverzögerung, also „live“, auf den Monitoren der Online-User landen.

Die Verbreitung von Live-Tickern auf Internet-Newsportalen kann mit Fug‘ und Recht selbst als viral bezeichnet werden. Dennoch nimmt es wunder, dass ausgerechnet der neuerdings vor allem in Norddeutschland grassierende EHEC-Keim zum Gegenstand der Live-Berichterstattung wird. Denn das Wesen der Live-Berichterstattung ist doch, dass ständig in Bewegung befindliche Ereignisse aktualisiert werden, während im Falle einer Krankheit das hauptsächliche Ereignis darin besteht, dass kranke Menschen unter Quarantäne in Krankenhausbetten liegen. Und spätestens seit Gontscharows Roman „Oblomow“ wissen wir, dass Im-Bett-Liegen keine dramatische Handlung ist. Und dass ausgerechnet über einen tödlichen Keim „live“, also lebendig, berichtet wird, hat auch seine ganz eigene Ironie.

Immerhin bringen uns die EHEC-Liveticker so schöne Notizen wie die des Hamburger Abendblattes:

Darmkeim: Lage im Norden spitzt sich zu

Die Tageszeitung Die Welt weiß „live“ zu berichten:

SPD fordert eigenen Krisenstab für Darmkeim

Unüberbietbar allerdings die Überschrift von oe24.at:

Todes-Keim: Das erste Opfer spricht

So kann Journalismus selbst Tote wieder zum Leben erwecken. Alle anderen lachen sich tot.

Facebook: Was bringt der Like-Button?


05 Jun

Der Social Media-Dienst Facebook hat Zahlenmaterial darüber veröffentlicht, wie sich der Verkehr auf einer Website durch den „Like“-(„Gefällt mir“)-Button steigern lässt. Das klingt sehr imposant, nämlich so:

  • Social-Media-Paradebeispiel Levi’s erzielte eine 40 prozentige Traffic-Steigerung von Facebook, nachdem im April 2010 der Like-Button auf den Unternehmens-Plattformen implementiert wurde.
  • Im Durchschnitt steigert eine Facebook-Integration den „Referral Traffic“ um 300 Prozent.
  • User, die sich etwa via Facebook auf der Huffington Post einloggen, sehen sich im Mittel 22 Prozent mehr Content an und bleiben acht Minuten länger auf der Website.

Der Suchmaschinenexperte Danny Sullivan vom Internetdienst Search Engine Land hat sich diese, von Facebook selbst veröffentlichten Zahlen, mal genauer angesehen:

Zunächst wurde Search Engine Land übermittelt, der Jeans-Hersteller hätte stolze 40 Prozent totale Traffic-Steigerung durch die Implementierung des Like-Buttons erzielt. Dieser Wert muss sofort bei jedem Skepsis erzeugen, der sich über die Funktionalität des Like-Buttons und über Optimierungsprozesse von Traffic im Klaren ist. Die Recherche Sullivans ergab, dass diese Steigerung des Traffics „lediglich“ im Mai 2010 von Facebook auf Levi’s-Plattformen erzielt wurde. Da dieser Facebook-Traffic zuvor aber lediglich bei 1 Prozent lag, macht das die Steigerung dennoch bemerkenswert.

Eine bemerkenswerte Steigerung von 1% auf 1,4%! Nicht erst in Zeiten des Onlinejournalismus muss man immer auf der Hut sein, wenn Journalisten mit Prozentzahlen operieren. Erst die Vergleichszahl macht deutlich, wie wenig aussagekräftig die angeblich imposante Steigerung eigentlich ist. Das darf andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade journalistische Websites vom „Gefällt mir“-Button wirklich profitieren können:

Im Fall der News-Portale von NBC, der Washington Post und der Huffington Post ist Facebooks Sozialkomponente enorm wichtig. So ist das Social Network im Nachrichten-Sektor mittlerweile der zweitwichtigste Traffic-Bringer, hinter Google. Besonders Informationsplattformen können also von einer überlegten Social-Strategie profitieren. Dabei hat sich der Like-Button in der dynamischen Verteilung von Content als nützliches Tool erwiesen.

Der Like-Button ist also auch hier nur ein Werkzeug, um die Aufmerksamkeit fürs eigene Angebot zu steigern. Eine eigene Facebook-Präsenz und aktive Teilnahme in der Social Community sind andere Möglichkeiten, um den Dienst Facebook journalistisch zu nutzen.

Wer Flashmob sät, wird Mob ernten


04 Jun

Unfälle begleiten das Leben, sind aber bislang hauptsächlich aus dem Straßenverkehr oder in Haushaltssituationen bekannt (NB: Dass die staatliche Finanzsituation als „Haushaltsunfall“ von wortspielaffinen Journalisten  bezeichnet würde, ist vermutlich nur eine Frage der Zeit). Jetzt gibt es „Unfälle“ auch im Web 2.0, was der Metapher von der Daten-Autobahn weiter Futter gibt: Vom „Facebook-Unfall“ ist die Rede, weil ein 15-jähriges Hamburger Mädel zum Geburtstag auf Facebook gleich die gesamte Netz-Community eingeladen hat. Verunfallt sei sie, weil es mutmaßlich unabsichtlich geschah. Der Unfall wird gleichzeitig auch als „Party“ bezeichnet, für manche aber auch für eine „Panne“ gehalten. 14.000 Facebook-Nutzer sollen sich nach Meinung einiger Journalisten für das Fest angemeldet haben, andere gehen von 15.000 Festgästen aus, oder waren es doch, wie das gleiche Blatt vermeldet, 16.ooo Leute? Oder unter Umständen, wie eine Zeitung der gleichen Verlagsgruppe meint, nur 7.000? Egal, gekommen sind dann jedenfalls hunderte. Oder eventuell auch tausend. Oder, wie ein Nachrichtensender weiß, 1.500 Geburtstagsgäste. Nein, pardon, es müssen 1.600 Gäste gewesen sein, verlautbart eine andere Zeitung. Die Party fand übrigens in Wahrheit gar nicht statt, da sie zuvor abgesagt worden ist, wie mancherorts zu lesen ist. Die dennoch kamen, taten es auf die prosaischste Weise: „Sie kamen mit Bussen und Bahnen, mit dem Auto und zu Fuß“, ist irgendwo zu lesen. Auch über den weiteren Verlauf der Festivität ist verschiedenes bekannt geworden: Einige melden, dass von den hundert bis 1.600 Gästen zuerst „friedlich gefeiert“ worden sei. Andere berichten, es „ging vor Thessas Haus ordentlich die Post ab“. Die F.A.Z. weiß von „Ausschreitungen“ und kolportiert: „Es flogen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper. Partygäste nahmen Vorgärten auseinander, Zäune wurden niedergetrampelt“. Wurden nun „bengalische Feuer“ gezündet oder, wie das Hamburger Abendblatt weiß, „Steine und Böller“ geschmissen? Am Ende kam es gar, wie heute.at meldet, zu „Verwüstungen ihres Elternhauses“. Und auch Spiegel Online weiß zu berichten, dass es zu „Festnahmen und Verwüstungen rund um das Elternhaus“ gekommen sei, wobei noch zu klären wäre, ob es im Rahmen der „Festnahmen rund um das Elternhaus“ zu handschellenbewehrten Zwangsabführungen von Stiefmütterchen und Azaleen gekommen ist.

Der 16. Geburtstag: „Das war und ist traditionell ein wichtiges Datum im Leben eines Teenagers“, philosophiert das Hamburger Abendblatt und dichtet weiter: „Das Szenario ist fast so alt wie Facebook selbst: Ein angehendes Geburtstagskind plant eine Party …“ So alt wie Facebook selbst: Das sind dann ja schon stramme sechs Jahre, also beinahe biblisch.

Was immer sich dort in Hamburg ereignet haben mag: Zeitungsleser und Online-Newsportalleser werden es nie erfahren. Denn offenkundig war keiner derjenigen Journalisten, die darüber geschrieben haben, selbst vor Ort und hat sich ein Bild gemacht. Es ist eine Berichterstattung vom Hörensagen und vom Abschreiben, sie lebt von eigenem Dazutun, dichterischer Ausschmückung, Übertreibung und reicht bis zu grober Fälschung. Ein Unfall fürwahr, aber keiner auf Facebook, sondern einer im deutschen Blätterwald. Wer Flashmob sät, wird Mob ernten: Aber nicht den feiernden, sondern den schreibenden.

Fernsehfriedhof: Der Anrufsender 9Live lässt’s nicht mehr klingeln


04 Jun

9live_bilderraten__1385812p“Kein Schwein ruft mehr an”, titelt geistreich die heutige tageszeitung (taz) zum Ende des Anrufsenders 9live, der seit vergangenen Mittwoch zwar immer noch auf Sendung ist, seines Hauptsendeinhalts  aber verlustig gegangen ist, nämlich der Veranstaltung unsäglicher Anrufspielchen, die menschlichen Geist und Portemonnaie gleichermaßen beleidigten. Fernsehgeschichte hat 9live dennoch geschrieben: Es handelte sich um den ersten privaten Fernsehsender Deutschlands, der seinen Erfolg nicht mehr an Einschaltquoten maß, sondern an Anruferzahlen. Denn mit denen verdiente der Sender sein Geld, wie quotenmeter.de drastisch darstellt:

Um diese möglichst hoch zu halten, entwickelten die Verantwortlichen immer neue Spiele, Bilderrätsel und Aufgaben, die es für die Zuschauer zu lösen gab. Dabei standen stets zwei Varianten besonders im Fokus: Entweder war die Frage sehr einfach, aber die Durchstellung eines Kandidaten dauerte ewig oder die Aufgabe war schier unlösbar, weil es zu viele mögliche Antworten oder einen unklaren Lösungsweg gab. Nicht zuletzt wegen diesen Methoden stand der Sender fast pausenlos in der Kritik. Betrug, Erschleichen von Telefongebühren, unzulässiges Antreiben der Anrufer und vieles mehr wurde den Machern vorgeworfen, die immer wieder mit konzeptionellen Änderungen und Warnhinweisen gegenzusteuern versuchten.

“Transaktionsfernsehen” nannten das seine Macher. Gemeint können damit auch die Banktransaktionen der Einspielergebnisse auf die Bankkonten der Eigentümer sein. Denn erfolgreich war der Sender durchaus, jedenfalls kommerziell. Über Jahre war das Programm die Cashcow der ProSieben-Sat1-Gruppe.  Dass 9live allerdings aus “tm3” hervorgegangen ist – der erste ausgewiesene reine “Frauensender”, der mit durchaus avantgardistischen Elementen Zielgruppenfernsehen machen wollte – demonstriert nachhaltig, wie schnell man im deutschen Fernsehen wie tief sinken kann (man erinnere sich nur an das traurige Schicksal von “Vox”). Die Welt stellt dar, welchen Lauf die geschäftliche Entwicklung endlich nahm:

Seit der Verschärfung der Regeln für TV-Gewinnspiele wuchs die Zahl der Verfahren, während die Umsätze des Senders schrumpften – allein im ersten Quartal 2011 gingen sie um gut ein Drittel auf 9,2 Millionen Euro zurück.

Seit vergangenem Mittwoch hat es sich ausgeklingelt. Fortan zeigt 9live brave und biedere Serien in Wiederholung. Die taz wundert sich:

Jetzt hat der Sender seinen "Live-Betrieb", so die Umschreibung für die schlichtmoderierten Zock-Formate, eingestellt. Seit Mittwoch spielt 9Live brave TV-Konserven aus dem Konzernarchiv und macht damit zum ersten Mal so etwas wie – Programm.

9Live jetzt ohne Telefongewinnspiele: Kein Schwein ruft mehr an – taz.de

Der Untergang der „Titanic“


01 Jun

Es ist schon wahr, was der fränkische Dichter Jean Paul Richter einst schrieb: „Es ist viel schwieriger, keinen Witz zu machen, als einen“. Aber im Falle des ehemaligen Satiremagazins „Titanic“ aus Frankfurt/Main ist schon dramatisch, zu welchen Aberrationen eine um den Witz nur bemühte Redaktion fähig ist. Ich jedenfalls habe mir kürzlich nach sehr langer Zeit wieder einmal eine Ausgabe dieses selbsterklärt „endgültigen Satiremagazins“ gekauft (standesgemäß am Bahnhofskiosk), und was soll ich sagen: Ich fand nichts zu lachen, auch nichts zu schmunzeln, und selbst ein beharrlich müdes Lächeln zauberte das Blatt mir nur widerstrebend ins Gesicht. Wäre nicht (auf der vorvorletzten) Seite das fiktive Interview mit Grünen-Ministerpräsident Kretschmann im Stile der christlichen Zeitschrift Chrismon, Kauf und Lektüre wären völlig vergebens gewesen. Die Humorkritik von „Hans Menz“ war gewohnt subtil und hatte stellenweise die alte Souveränität (wiewohl zu fragen ist, wer sich nach dem Dahinscheiden von Robert Gernhard dieses Pseudonyms bedient). Der Rest erinnerte eher an den fiktiven Humor der Zeitschrift Eulenspiegel oder, die Älteren werden es noch kennen, des Magazins Kowalski und war, um ein Wortspiel zu bemühen, „end-gültig“.

Wie einfach dagegen Humor sein kann, beweist die Realität in Gestalt des ZDF-Morgenmagazins. Da moderiert die nur leicht überschätzt Dunja Hayali zusammen mit einer Zeit-Redakteurin die Presseschau und hält dazu ein Tageszeitungstitelblatt nach dem anderen in die Kamera. Dann kommt sie zum gestrigen Urteils-Spruch in Sachen Vergewaltigungsprozess des Wettermoderators Jörg Kachelmann und sagt die beeindruckenden Worte:

Das können wir auch noch mal kurz reinhalten …

Humor kann so einfach sein. Ich jedenfalls habe laut gelacht.

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter