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Liebling, wer hat die Umfragen geschrumpft?


11 Sep

Statistik04Was verstehen JournalistInnen von Mathematik und Statistik? Vermutlich nicht so viel. Was die Behandlung von Zahlenmaterial in Presse und Rundfunk angeht, stellt Wolf Schneider, ehemaliger Leiter der Hamburger Henri Nannen-Schule fest, „drei von vier Zahlen (…) sind entweder falsch oder irreführend oder fragwürdig oder unzulässig oder läppisch“. In Wahlkampfzeiten wird das wieder einmal besonders deutlich. Stichwort: Wahlumfragen. Was ist denn nur von solchen Schlagzeilen zu halten:

Forsa-Umfrage: SPD erholt sich, Grüne unter zehn Prozent (Zeit online)
Umfrage: Linke überholt Grüne (Neues Deutschland)
Schwarz-Gelb weiter knapp vorne – SPD legt zu (Reuters Deutschland)

Die B.Z. aus Berlin spricht gar von einem „Umfrage-Desaster“. Das ist es in der Tat, jedoch eher ein journalistisches als ein politisches. Denn was ist von solchen Umfragen und Wahlprognosen zu halten? Gar nichts. „Seitdem es Wahlprognosen gibt, sind Wahlprognosen falsch“, stellt Walter Krämer, Statistiker an der Technischen Universität Dortmund, fest. Der Mathematiker Fritz Ulmer nennt die Wahlvorhersagen „Zahlenprostitution“ und hat im Internet ein „Grabmal für die unbekannte Fehlprognose“ angelegt. Praktisch noch nie war eine Wahlprognose deutscher Umfrageinstitute richtig. Dafür waren einige Vorhersagen katastrophal falsch. Bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 sahen die Forschungsinstitute und die mit ihnen verbandelten JournalistInnen jedes Mal Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen seine Herausforderer Edmund Stoiber und Angela Merkel abgeschlagen. Angela Merkel soll im Jahr 2005 zeitweise sogar 20 Prozentpunkte Vorsprung gehabt haben. In Wirklichkeit hat dagegen Schröder die 2002er-Wahl deutlich gewonnen und die 2005er-Wahl nur sehr knapp verloren. Die Liste ließe sich fortsetzen: Der Aufstieg der Piratenpartei? Das Revival der SPD in Nordrhein-Westfalen? Wurde von den Prognoseinstituten nicht prognostiziert.

Woran liegt’s? Das ist leicht zu erklären. Befragt wird nicht das Wahlvolk, sondern nur ein kleiner, zufällig ausgewählter Bevölkerungsausschnitt, meist tausend bis zweitausend Menschen. Schon das bedingt statistische Fehler. Dazu kommt, dass es offensichtlich etwas anderes ist,  ob jemand unverfänglich am Telefon nach seiner politischen Meinung gefragt wird oder ob er oder sie tatsächlich in der Wahlkabine steht und seine Kreuzchen machen darf. Schließlich sind die Wählerinnen in Deutschland nach wie vor recht konservativ, was die persönliche Wahlentscheidung angeht. So ist schon die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit größer als die tatsächliche Schwankungsbreite der realen Wahlergebnisse der großen Parteien. Noch weniger Wählermobilität gibt es, wenn man sich die großen politischen Lager ansieht. Deswegen entscheiden oft ja wenige tausend Stimmen über den tatsächlichen Ausgang der Wahlen.

Man kann dieses Phänomen als „politische Persistenz“ bezeichnen. Die Persistenz ist in der Wissenschaft die Theorie der Erhaltungsneigung. Bekannt ist das beispielsweise vom Wetterbericht (auch so einer Spielwiese journalistischer Prognosen): Die Wahrscheinlichkeit, dass das Wetter heute so wird, wie es gestern war, liegt bei immerhin 70 % und damit nur unwesentlich unter den Prognosewahrscheinlichkeit der mit viel Computerpower errechneten Wetteraussichten des Deutschen Wetterdiensts. Entsprechend ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Bundestagswahl ähnlich ausgehen wird wie die letzte, ziemlich hoch. Für Überraschungen können da nur neue Parteien sorgen: Da sie beim letzten Mal nicht zum Urnengang angetreten sind, können sie logischerweise auch nicht das gleiche Ergebnis wie beim letzten Mal erzielen. Das hat weder mit „Erdrutsch“, noch mit „Überraschungserfolg“, sondern schlicht mit Logik und Mathematik zu tun.

Wenn also der „stern-RTL-Wahltrend“ verkündet: „Grüne stürzen auf Vierjahrestief“, so ist diese journalistische Äußerung von großer statistischer und politischer Unwissenheit geprägt. Denn die Grünen „stürzen“ nirgendwo hin, sondern landen, je näher der Wahltag kommt, umso näher an ihrem Ergebnis der letzten Wahlen vor vier Jahren, das bei 10,7 % lag. Bei der Frage, wie sich zum Teil eklatante Änderungen von Umfragewerten zu Wahlwerten erklären lassen, ist die naheliegendste Erklärung nicht die, dass eine Partei wie hier zum Beispiel die Grünen irgend etwas falsch gemacht haben, sondern die, dass mit den Umfragen und den Zahlen etwas nicht stimmt.

Was lernen wir daraus: Wir können trotz aller Wissenschaft nicht in die Zukunft sehen und Wahlen werden am Wahltag entschieden. Und das ist auch gut so, denn sonst könnten wir uns das Wählen ja sparen.

(Ein ausführlicherer Artikel von mir zum Thema Wahlprognosen und Statistik wird im kommenden medium magazin erscheinen)

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Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter