Hat der Zeitungsjournalist keine Zahlen bei der Hand, die er verfälschen könnte, oder fehlen ihm Mut oder Kreativität, das zu tun, dann greift er mit Vorliebe zum schlimmsten Mittel sprachlicher Gewaltanwendung und bemüht den Immermehrismus. Der Immermehrismus ist das Lügen mit Zahlen ohne Zahlen, der dreisteste Angriff auf die Intelligenz der Leser, der schlagende Beweis für das gestörte Verhältnis des Zeitungsmenschen zur Wirklichkeit.
„Zollbehörden entdecken immer mehr gefälschte Medikamente“. (Deutsches Ärz-teblatt)
„Die Garantie schwindet immer mehr“. (Handelsblatt)
„Immer mehr Eltern sind erziehungsunfähig“. (FAZ)
„Immer mehr Frauen prellen ihren Schönheits-Chirurgen“. (Bild)
„Jugendliche haben immer mehr Ahnung von Sex“. (Welt)
Wo der Immermehrismus herrscht, gerät immer häufiger auch die Orthographie durcheinander, wie bei der Westdeutschen Zeitung: „Immer mehr Menschen (…) können ihr Schulden nicht mehr bezahlen. Die Zahlen steigen zwar langsam aber der Trend ist ungebrochen“. Wenn immer mehr nicht mehr zahlen können, haben dann immer weniger immer mehr? Und was soll man gar noch sagen, wenn Die Zeit titelt: „Immer mehr ist immer weniger“? Diabetes ist die Todesursache von „immer mehr Bundesbürgern“, schreibt das Deutsche Ärzteblatt. Wenn ständig noch mehr Bundesbürger an Diabetes sterben, müsste irgendwann der Tag erreicht sein, an dem alle deswegen enden, mithin auch die Autoren dieses Unsinns.
„Immer mehr“ ist keine Zahl. „Immer mehr“ verweigert sich der exakten Bezifferung. „Immer mehr“ ist das Gerücht einer Steigerung, die üble Nachrede der großen Menge. „Immer mehr“ begründet einen Trend, und ohne Trend geht es in der Zeitung gar nicht. Der Immermehrismus ist empirisch nicht nachprüfbar und lässt sich auf jedwede These allfällig anwenden. Er begründet eine real nicht vorhandene Aktualität, nach der „gerade jetzt“ herausgekommen ist, dass „immer mehr“ geschieht und „immer mehr“ es tun. Den Zweck würde das Wort „mehr“ alleine auch erfüllen. Aber das würde einen Vergleich erzwingen und ein tertium comparationis erfordern, das nicht vorhanden ist. Der Allquantor „immer“ dagegen konterkariert gerade die behauptete Aktualität, denn was „immer“ geschieht, ist gerade nicht akut und deswegen nicht gerade jetzt mitteilenswert. Wer dem Immermehrismus frönt, der hat in Wahrheit nichts mitzuteilen, der formuliert Thesen über eine Welt, die es nur im Zeitungsuniversum gibt und die für den Medienkonsumenten keinerlei Relevanz haben.
Ist der Immermehrismus die Unschärferelation journalistischen Beginnens, so ist der Abzuwartismus die Unbekümmertheit journalistischen Endens.
„Ob diese Maßnahmen mehr als nur Papier produzieren und auch den konkreten Unterricht erreichen, bleibt abzuwarten“. (Tagesspiegel)
„Ob sich der verfrühte Start in den Wintertourismus auch anderswo ausgeht, bleibt abzuwarten“. (Die Presse)
„Es bleibt abzuwarten, ob ‚Second Life’ nur ein kurzfristiger Trend ist oder sich langfristig etabliert“. (Wirtschaftswoche)
„Was allerdings von diesen Plänen verwirklicht wird, bleibt abzuwarten“. (Welt)
„Ob das Konzept aufgeht, bleibt abzuwarten“. (taz)
Einen mutig begonnenen Artikel mit einem fahlen „bleibt abzuwarten“ zu enden, bedeutet, ihm die durch den Immermehrismus herbeigeschwindelte Aktualität am Ende wieder zu nehmen. Es ist das Eingeständnis, dass in Wahrheit nichts zu berichten war. Wo sich abwarten lohnt, da lohnt auch schweigen. Doch schweigen zahlt sich im Zeitungsjournalismus nicht aus.