Merkwürdig, was man zu lesen bekommt, wenn man im Duden Bd. 12 („Zitate und Aussprüche“) das „Schweigen im Walde“ nachschlägt. Dort ist zu lesen (S.474):
Einer der vielen früher oft gelesenen, meist von Liebes- und Gebirgsromantik bestimmten Romane des bayrischen Schriftstellers Ludwig Ganghofer (1855-1920) trägt diesen Titel. Der Roman wurde, wie auch viele andere Ganghoferromane, mehrfach verfilmt. Der Titel hat sich verselbstständigt und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. (…)
Merkwürdig, denn der locus communis zum schweigenden Walde ist doch nun nicht gerade Ganghofer, sondern derjenige, der ohnehin als größter Zitatelieferant deutscher Zunge herhalten muss: Johann Wolfgang Goethe (die Abbildung zeigt denn auch den Dichterfürsten und nicht den Ganghofer). In seinem immerhin bekanntesten Gedicht „Ein Gleiches“, das gerne auch unter dem Titel „Wandrers Nachtlied“ erwähnt wird, reimte Goethe:
Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Ludwig Ganghofer hat sich hier offenbar selbst schon eines, seinen LeserInnen vermutlich nur zu bekannten Zitates bedient, mit dem er seinen Roman überschrieb. Wie kommt nun die Duden-Redaktion, die ihren Goethe doch nun auch kennen sollte, dazu, das berühmte Zitat dem bajuwarischen Dichter in den Mund zu legen? Ein Verdacht keimt auf: Man hat in der Dudenredaktion bei Wikipedia nachgeschlagen. Denn unter dem dortigen Lemma „Schweigen im Walde“ wird ausschließlich auf die Verfilmungen des Ganghofer-Stoffes, nicht aber aufs Goethe-Original verwiesen. Es könnte natürlich ebenso gut sein, dass die Wikipedianer sich beim Duden kundig gemacht und darum der Fehlinformation aufgesessen wären. Indes, Wikipedia weiß es besser als der Duden. Denn unter dem Artikel „Wandrers Nachtlied“ wird die Genese des wirklichen Gedichts dieses Titels beschrieben, und das lautet nochmals anders:
Wandrers Nachtlied
Der du von dem Himmel bist,
Alle Freud und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!
Fälschlicherweise wird gerne das Gedicht mit dem Anfangsvers „Über allen Gipfeln ist Ruh“ unter dem Titel „Wandrers Nachtlied“ zitiert. Das hat mit einer editorischen Entscheidung bei der Goethe-Gesamtausgabe „letzter Hand“ zu tun: Dort stand das Gedicht mit dem „schweigen im Walde“ nämlich auf der gleichen Seite wie „Wandrers Nachtlied“ und fand sich überschrieben mit „Ein Gleiches“. Pragmatisch wird dieser Titel interpretiert im Sinne von: „Noch ein weiteres Nachtlied des Wanderers“. GermanistInnen und GoethianerInnen hingegen lesen den Titel eher als Verweis auf das Gleichnishafte und auf die Parallelität zwischen Naturerleben und geistigem Erleben.
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