Archive for the ‘Allgemeines’ Category

Wahlen: Über Flüchtlinge abstimmen?


12 Mrz

Am kommenden Sonntag sind in drei deutschen Bundesländern Landtagswahlen. Worüber wird bei diesen Sternstunden der Demokratie eigentlich abgestimmt? Wenn es nach der Wochenzeitung Die Zeit geht, ist die Antwort klar: Es wird über die Flüchtlingspolitik abgestimmt.

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In der Unterüberschrift auf der Titelseite der Zeit-Ausgabe von vergangener Woche heißt es: „Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen“.

Dem muss entschlossen widersprochen werden! Nein, nein, nein. Bei Landtagswahlen wird über alles Mögliche abgestimmt, zum Beispiel über die Zusammensetzung des nächsten Landtags und darüber, wie dieser Landtag anschließend Politik macht. Aber über die Flüchtlingspolitik wird garantiert nicht abgestimmt. Denn die Landtage der deutschen Bundesländer haben im Vergleich bei nahezu allen Fragen, die die nach Deutschland flüchtenden Menschen angeht, am wenigsten mitzureden und sind auch am wenigsten betroffen.

Zu den klassischen Politikbereichen der Landespolitik gehören die Kulturpolitik, die Bildungspolitik und die Landes- und Regionalplanung. Mittelbar ist Landespolitik darum betroffen, weil Flüchtlingskinder- und -jugendliche ebenfalls schulpflichtig sind. Der Bau neuer Schulen aber zum Beispiel fällt dann sehr häufig wieder in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen.

Die sog. Flüchtlingspolitik betrifft in hohem Maße die Bundespolitik (zum Beispiel was die äußere Sicherheit angeht oder internationale Abkommen) sowie die Lokalpolitik, die ohnehin in nahezu allen Fällen, in denen am Ende viel Geld aufgebracht werden muss, die Geforderten sind. Landespolitiker sind hier meistens nur Zaungäste der Debatte. Ein Landesministerpräsident wie der Bayer Horst Seehofer kann darum relativ gelassen zu Immigrationsfragen den Mund aufmachen, da es für ihn nahezu kosequenzenlos ist, egal wieviel Unsinn er redet.

Liebe Wählerinnen und Wähler! Glaubt dem gemeingefährlichen Unsinn, den Journalisten beispielsweise in der Wochenzeitung Die Zeit schreiben, nicht: Wählt gute Bildungs- und Kulturpolitiker, wählt gute Regionalplaner und Landespolitiker, aber bitte stimmt bei den bevorstehenden Landtagswahlen nicht über die Flüchtlingspolitik ab. Es könnte sonst passieren, dass für die nächsten Jahre Eure Landespolitik von Leuten dominiert wird, die zwar meinen, sich mit Minaretten auszukennen, aber über Schulverpflegung und Landesfilmförderung bestimmen müssen.

Journalismus in einer „gelenkten Demokratie“


22 Dez
Murmansker Studio des russischen Staatsfernsehens (Foto: HH)

Murmansker Studio des russischen Staatsfernsehens (Foto: HH)

Erkenntnisse vom Deutsch-Russischen Medienforum

Im hohen Norden Russlands, in Murmansk, fand vom 03. bis 05.Dezember das Deutsch-Russische Medienforum statt. Ich war eingeladen, als Referent über „Journalismus im digitalen Wandel. Berufsverständnis, Storytelling und neue medienethische Standards“ zu sprechen. Daneben gab es viele Gespräche und Diskussionen mit russischen Kolleg/innen aus der Print- und Onlinemedienwelt. Im Rahmen des Programms besuchten wir auch verschiedene Murmansker Medienhäuser. Die Stadt am Nordmeer ist eine der Internethauptstädte Russlands: Kein Wunder, bei annähernde 24 Stunden Dunkelheit im Dezember … (mehr …)

The german „Angst“


11 Nov
Foto: Victor Bezrukov/Wikimedia

Foto: Victor Bezrukov/Wikimedia

Einer der Topoi, die in der Berichterstattung über die sogenannte Flüchtlingskrise die Runde macht, ist der von den „Ängsten in der Bevölkerung“, die man doch bitteschön „ernst nehmen“ müsse. Bundesinnenminister De Maizière äußerte sich so, SPD-Chef Siegmar Gabriel, der Berliner Bürgermeister Buschkowsky. Aber was heißt das eigentlich, „Ängste ernstnehmen“, und geht das überhaupt?

Ängste gehören in den Affekthaushalt des Menschen. Sie entziehen sich damit gerade rationaler Erörterung. Wer Angst hat, reagiert affektiv, emotional, nicht vernunftgesteuert. Eine Sache ernstnehmen dagegen bedeutet, sie sachlich und rational von allen Seiten zu erörtern, ihr Gewicht geben, ihr eben einen „Ernst“ zuzumessen, der auch hinterfragbar ist und entsprechend auch falsifizierbar.

Wer Angst hat, hat immer recht. Man kann schließlich vernünftigerweise niemandem seine Gefühle absprechen. Wenn Politiker oder Journalisten öffentlich dazu auffordern, „Ängste ernstzunehmen“, sagen sie nichts anderes, als dass die Ängstlichen recht haben, egal welche Argumente sie vortragen oder ob diese stichhaltig, schlüssig oder nachvollziehbar sind. „Ängste ernstnehmen“ heißt Ende der Diskussion. Politik sollte aber das Gegenteil tun, und Journalismus auch: Sollte zur Diskussion ermutigen, Argumente abwägen.

„The german Angst“ ist auch international schon sprichwörtlich geworden. Der Unisys Security Index misst mit den Methoden der Marktforschung alle halbe Jahre das Gefühl der nationalen, finanziellen, Internet- und persönlichen Sicherheit. Je höher der Wert dieses Index, desto ängstlicher. Die Deutschen erreichen auf dieser Skala einen Wert von 146 von 300 erreichbaren Punkten. Zum Vergleich: Großbritannien erreicht auf der Angst-Skala lediglich einen Wert von 103, die Niederlande sogar nur 66. „Die ‚German Angst‘ steckt tief in unseren Genen“, schreibt dazu die Tageszeitung Die Welt. Deutschland ist vorgeblich das Land der Dichter und Denker, doch statt nachzudenken, ängstigt man sich doch lieber.

„German Angst“ ist auch kein neues Phänomen. Schon der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe konstatierte bei einer Deutschlandreise im Jahr 1936 eine tiefsitzende Angststörung:

Ihm wurde klar, dass diese ganze Nation von der Seuche einer ständigen Furcht infiziert war: gleichsam von einer schleichenden Paralyse, die alle menschlichen Beziehungen verzerrte und zugrunde richtete. Der Druck eines ununterbrochenen schändlichen Zwanges hatte dieses ganze Volk in angstvoll-bösartiger Heimlichtuerei verstummen lassen, bis es durch Selbstvergiftung in eine seelische Fäulnis übergegangen war, von der es nicht zu heilen und nicht zu befreien war.

Nein, wir sollten Ängste nicht ernst nehmen. Was wir, gerade auch in der journalistischen Berichterstattung, ernst nehmen sollten, das ist das Reden über Ängste, das Hofieren der vermeintlich Ängstlichen durch gewisse Politikerinnen und Politiker. So äußerte sich etwa Timo Stein im politischen Magazin Cicero, und er sei darum hier zitiert:

Nehmen wir ernst, was ernst zu nehmen ist. Und beäugen wir mit der gebotenen Portion Skepsis das Hofieren wütender Kleinbürger ins demokratische Spektrum durch die politische Klasse.Nehmen wir die hoffentlich nach wie vor große Mehrheit ernst, die sich hinter keinem Akronym versteckt, die sich nicht in Dresden oder Hannover tummelt, keine Angst davor hat, dass der Christstollen seine abendländische Identität verliert, dass die Gesellschaft durch verburkatisierte Mullahs infiltriert wird oder die Genderisierung die deutsche Sprache abschafft. Nehmen wir ernst und wahr, dass offensichtlich notleidende Asylsuchende ausreichen, um dieses Land mit einem Mehltau der Ignoranz zu überziehen. Und das in einer Zeit, in der die Gesellschaft mit den NSU-Morden noch einen riesigen Berg an Aufarbeitung zu bewältigen hat. Anstatt verschwimmenden Ängsten Autorität und Legitimität zu verleihen, sollte man besser das Feuer ernst nehmen, das in drei geplanten Flüchtlingsunterkünften in Bayern brannte. Gleiches gilt für die Hakenkreuzschmierereien und fremdenfeindlichen Parolen, die dort hinterlassen wurden.

Subventionen für den Journalismus


28 Okt
Bild: Bernd Kasper/Pixelio

Bild: Bernd Kasper/Pixelio

Im Journalismus wird viel mehr subventioniert, als einem lieb ist.

Das merkt man gerade wieder im Zuge des VW-Skandals, bei dem der Wolfsburger Autobauer Volkswagen durch Software-Manipulationen den echten Stickoxid-Ausstoß verschiedener Dieselmodelle verschleiert hat. Diesel ist in Deutschland an den Zapfsäulen deutlich günstiger als normales Benzin. Für Journalisten ist klar: Das ist eine Subvention.

VW-Abgasskandal: Warum wird Diesel subventioniert? (Handelsblatt)
Vier Argumente gegen weitere Diesel-Subventionierung (Zeit)
Steuervorteile für Diesel: Subventionen für Dreckschleudern (taz)

Zugegeben, es gibt keine eindeutige Definition des Begriffs Subvention. Aber das heißt noch nicht, dass jede Einkommensquelle, die der Staat nicht erschließt, gleichbedeutend ist mit einer staatlichen Beihilfe. Dann könnte man nämlich auch behaupten, dass der Staat Luft subventioniert, weil darauf keine Steuer erhoben wird. Dass der Staat also eine niedrigere Steuer für eine bestimmte Kraftstoffart nimmt, ist zwar eine Steuererleichterung, aber deswegen noch lange keine Subvention. So wie es keine Subvention ist, wenn der Staat Verheiratete mit Kindern niedriger besteuert als Singles ohne Kinder. Es gibt auch keine Steuern auf Blattgrün, trotzdem subventioniert der Staat nicht den deutschen Wald. Er sollte vielleicht mal damit anfangen, den Wald zu unterstützen, dann aber nicht mit Subventionen, sondern mit intelligenteren Mitteln.

Journalismus auf der Flucht


10 Okt
Ausschnitt: Bild vom 8.10.2015

Ausschnitt: Bild vom 8.10.2015

Wann ist der deutsche Journalismus eigentlich … gut geworden? Der deutsche Journalismus hat sich in einer Weise der Flüchtlings-Thematik angenommen, dass man ihn beinahe selbst auf der Flucht wähnt. Fremdenfreundlichkeit allerorten! Die Süddeutsche Zeitung wähnt uns in historischen Zeiten. Die Bildzeitung packt ihre liebste Waffe aus und startet eine Kampagne (“#refugeeswelcome: Wir helfen”), für die selbst SPD-Chef Siegmar Gabriel Schau läuft. Sogar eine Ausgabe auf Arabisch veröffentlicht der Springerverlag, als ob mehr journalistische Nächstenliebe nicht möglich sei. Selbst dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel will nichts rechtes Zynisches einfallen.

Was ist da nur los? Wie erklärt sich die publizistische xenophile Einheitsfront von Medienhäusern, die sonst doch wenig bis nichts gemeinsam haben wollen außer ihrer gegenseitigen Abneigung? Nun, es ist die Scham. Denn die gleichen Medien, die heute das Schöne, Gute, Wahre beschwören, haben bei der letzten “Flüchtlingskrise” noch in ein ganz anderes Horn gestoßen. Einige Cover des Nachrichtenmagazins Der Spiegel legen hierüber beredtes Zeugnis ab:

Spiegel-Cover 1990er Jahre

Spiegel-Cover 1990er Jahre

Vor allem die Boulevardmedien, allen voran die Bildzeitung, wirkten in den 1990er Jahren noch als Brandbeschleuniger. Die Bild am Sonntag sprach von  den „als Asylbewerber ‚verkleideten‘ Wirtschaftsflüchtlinge[n]“, Bild fragte polemisch: „Für wie dumm hält man die Deutschen eigentlich?“ und titelte: titelte: „Sensationelle Umfrage. Asyl: Grundgesetz ändern! 98 % dafür“.

Bild-"Schlag"-Zeilen in den 1990er Jahren

Bild-„Schlag“-Zeilen in den 1990er Jahren

Perfiderweise wurden die Forderungen nach Verfassungsänderung — die schließlich auch von der SPD mitgetragen wurde und unter anderem zu jener „sicheren Drittstaaten-Regelung“ führte, die der Bundesrepublik Deutschland heute auf die Füße fällt und von der die SPD nun nichts mehr wissen möchte — mit den fremdenfeindlichen Attacken und Anschlägen in Hoyerswerda, Mölln und Solingen begründet. Der Ausländer war selbst schuld und Deutschland schützt ihn doch nur, wenn er ihn nicht mehr über die Grenze lässt. Ist das perfide? Ja, ist es. Dabei war die Situation mit der heutigen durchaus vergleichbar: Toben heute Bürgerkriege in Syrien und Afghanistan, so damals im ehemaligen Jugoslawien. Die Ablehnung von Flüchtlingen vom Balkan damals wie heute spiegelt auch uralte Ressentiments, die bereits den ersten Weltkrieg befeuerten („Serbien muss sterbien“). Und die damaligen Maßnahmen hatten noch nicht einmal den Erfolg, den Journalismus und Politik sich davon erhofft hatten, was nur wenige so klar ausdrückten, wie die Berliner Zeitung bereits im Jahr 2000:

Die populistischen Töne aus der Debatte um den „Asyl-Kompromiss“ von 1992/93, der die Asylbewerber-Zahlen auf beinahe null brachte, aber die rechtsradikalen Terrorakte keineswegs stoppte, werden immer wieder aufgenommen. Von „Ausländerflut“ und „Überfremdung“ ist zwar meistens nicht mehr die Rede, doch verbale Tabubrüche zielen regelmäßig auf den rechten Rand der jeweiligen Wählerschaft: So ersann Roland Koch von der Hessen-CDU seine Unterschriftenaktion gegen den rot-grünen „Doppel-Pass“, sein Kollege Jürgen Rüttgers aus Düsseldorf zog nach mit „Kinder statt Inder“. Erst im Juni forderte Innenminister Otto Schily, die Zahl der Asylbewerber zu „reduzieren“, um eine Zuwanderung zu ermöglichen, „die unseren Interessen entspricht“. Und Kanzler Schröder, heute stolz auf die „Green Card“, thematisierte als SPD-Kandidat 1997 die so genannte Ausländerkriminalität: „Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell.“

Die Liste ließe sich verlängern: Die CSU machte 2013 mit der Forderung nach einer „Ausländer-Maut“ Wahlkampf, nur weil das Wort „Ausländer“ nach rechtsbayerischem Verständnis in Wahlkämpfen immer zieht. Zu den beliebten sprachlichen Manövern fremdenfeindlicher Ideologie zählt die rhetorische Figur des „Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen“. Sie reicht zurück in die Epoche der bundesrepublikanischen Sprachlosigkeit angesichts der Nazi-Barbarei mit Adornos berühmtem Auschwitz-Verdikt („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“). Das Paradoxe daran ist, dass die Figur ein Sprechverbot ausdrückt, das gar nicht existiert (außer was moderne Lyrik angeht, in deren Sprache rechtspopulistische Kreise sich eher selten ausdrücken). Was wird man denn schon noch sagen dürfen? Welche Meinung, welcher Sachverhalt wird in der journalistischen Berichterstattung eigentlich vermisst?

Der Begriff „Asylantenschwemme“ reicht beispielsweise weit hinter die 1990er Jahre zurück. Das Wochenblatt Die Zeit schrieb schon 1981 von der „Asylantenschwemme“: Damals stöhnte man journalistisch über 120 bis 150 Immigranten, die täglich vor allem aus Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, einwanderten. Auch das Hamburger Abendblatt aus dem Hause Springer schrieb bereits 1983 über die „Asylantenschwemme“ und konstatierte eine „[g]rundsätzllche Übereinstimmung in Fragen der Asylanten- Verminderung“ bei den Parteien. Und der Spiegel titelte schon 1986: „Asyl – Bis an die Grenze des Zulässigen“ und stellte, verpackt in einen unschuldigen Fragesatz, die Forderung nach einer Verfassungsänderung: „Hunderte von Flüchtlingen begehren jede Woche Einlaß in die Republik – Grund für eine Änderung des Grundgesetzes?“

Bild, 29.09.2015

Bild, 29.09.2015

Bild gibt sich also heute humanistisch und porträtiert Menschen, die „Flüchtlingen das erste Lächeln“ schenken. Ist das etwa Bild-Chefredakteur Kai Diekmanns neuer Kurs, dem man schließlich die ausländerfeindliche Berichterstattung der 1990er Jahre nicht anlasten kann, da er zu diesem Zeitpunkt noch damit beschäftigt war, sich als Burschenschaftler zu schlagen und sein Studium abzubrechen? Wohl kaum. Denn es ist noch nicht lange her, da tönte die Bildzeitung noch ganz anders und bezeichnete es als „bittere Wahrheit“, dass Libanesen und Türken „Stütze vom Staat“ bekämen:

Bild aus dem Jahr 2010

Bild aus dem Jahr 2010

Und noch im vergangenen Jahr koloportiert die Bildzeitung, dass Helfer Schutzwesten tragen müssten, wenn sie ein Flüchtlingsheim in Dresden betreten — eine Berichterstattung, die mittlerweile auch vom Deutschen Presserat gerügt worden ist.

Bild vom 08.09.2014

Bild vom 08.09.2014

Aber womöglich ist es ja bloß die Bildzeitung, die ihr fremdenfeindliches Ressentiment nur mühsam verbergen kann. Der breite Rest der Berichterstatter dagegen hat vielleicht wirklich die Volte von der Xenophobie zur Xenophilie hinbekommen. Wirklich?

Es scheint, dass nicht der deutsche Journalismus, aber dafür die deutsche Gesellschaft verändert hat. Ausländerfeindlichkeit scheint am Zeitungskiosk einfach nicht mehr die Verkaufserfolge zu zeitigen wie annodazumal. Die Presse verhält sich hier offenbar einfach populistisch, aber eben nicht mehr rechtspopulistisch. Sie handelt nicht aus innerer Überzeugung, weil sie wirklich ihre „vierte Gewalt“ und ihre gesellschaftliche Verantwortung für Willkommenskultur und Integration einsetzen wollte, sondern weil es sich gerade besser verkauft. Und passt man nicht auf, rutscht sie wieder ins alte Fahrwasser der Xenophobie.

Etwa wenn es um scheinbar nackte Zahlen zur mutmaßlichen „Flüchtlingskrise“ geht. So war in vielen Zeitungen in den vergangenen Wochen eine Statistik abgebildet, wie sich die Flüchtlingszahlen seit den 1990er Jahren entwickelt haben soll:

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Wie der Bildblog gezeigt hat, ergeben die Zahlen ein ganz anderes Bild, wenn man die Zeitreihe ein kleines bisschen verlängert. Dann sähe die Statistik in Wirklichkeit nämlich so aus:

Statistik: Bildblog

Statistik: Bildblog

Die schöne Literatur erzählt nach Ansicht einiger Erzählforscher nur eine einzige Geschichte, nämlich die einer langen Reise, der Heldenreise oder englisch Quest. Wer erzählt aber die Geschichte der Reisenden, die nun aus Nigeria und Irak, Syrien und Afghanistan in Europa anlanden? Wo ist der Roman über „Refugees Welcome“? Der Journalismus beschränkt sich auf Wasserstandsmeldungen. Die Helden, die er findet und über die er erzählt, sind nicht die Reisenden, sondern die Zuhausegebliebenen: Aufopfernde Helfer, freiwillige Retter, überforderte Grenzer. Das Reservoir an Geschichten, die der Journalismus (oder, wer weiß, die schöne Literatur) erzählen könnte, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Doch dazu müsste der Journalismus sich auf eine lange Reise machen …

Was Schriftliches von Vodafone


17 Jun

Ich bin durch die Vodafone-Hölle gegangen. Am Ende war es ein Pressesprecher, der mich von der schlimmsten Pein im Umgang des Mobilfunkbetreibers mit seinen Kunden befreite. In diesem Zusammenhang erzählte mit dieser Vodafone-Angestellte auch, dass niemals Mitarbeiter eines Vodafone-Shops handschriftlich Informationen herausgeben würden.

Die Probe aufs Exempel kann man allerdings im „Flagship-Store“ von Vodafone in der Kölner Schildergasse machen. Fragt man dort nach neuen Tarifmodellen oder den Möglichkeiten der Vertragsoptimierung und bittet dabei den Mitarbeiter, einem das doch auch schriftlich zu geben, dann erhält man das:

Vodafone_Handschrift02

Auch auf meine Bitte hin, mir eine gedruckte Tarifinformation zu geben, war der Vodafone-Mitarbeiter nicht in der Lage, mir anderes als dieses Schmierpapier in die Hand zu drücken. So viel zum Thema: „Vodafone geben niemals handschriftliche Informationen heraus …“

NoPhone: Das erste Handy, das nichts kann


10 Apr
Foto: NoPhoneStore.com

Foto: NoPhoneStore.com

NoPhone ist das erste wirklich smarte Phone, denn es handelt sich um ein Handy, das schlichtweg nichts kann: Keine Telefonate, keine Apps, keine SMS, kein Internet. Es ist nichts weiter als ein Stück Kunststoff im Design und Gewicht eines Smartphones, aber ohne jede Funktionalität. Das NoPhone soll sich insbesondere an Handysüchtige wenden, die auf das Gefühl eines Smartphones in der Hosen- oder Jackentasche nicht verzichten können. Auf der Website des Herstellers The NoPhone Team ist zu lesen:

With a thin, light and completely wireless design, the NoPhone acts as a surrogate to any smart mobile device, enabling you to always have a rectangle of smooth, cold plastic to clutch without forgoing any potential engagement with your direct environment. Never again experience the unsettling feeling of flesh on flesh when closing your Hand.

Das NoPhone wurde über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanziert. Das Projekt hat rund das Dreifache des ursprünglich geplanten Finanzziels von 5.000 US-Dollar ergattern können. Interessierte können das Gerät über einen eigenen Store für 12 US-Dollar bestellen. Das NoPhone kommt in einer sehr wertigen Verpackung und mit einer Gebrauchsanweisung daher, wie ein Unpacking-Video vorführt:

Der Hersteller hat es sich auch nicht nehmen lassen, die technischen Vorzüge des NoPhone mit den Werten des Smartphone-Platzhirschen zu kontrastieren. Der Vergleich führt wirklich drastisch vor Augen, worin die technischen Vorzüge des NoPhone bestehen:

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Es gibt auch bereits ein Update des Produkts, nämlich eine eigene NoPhone-Selfie-Edition:

NoPhone Selfie-Edition (nophonestore.com)

NoPhone Selfie-Edition (nophonestore.com)

Erweiterungen des Produktportfolios des NoPhone-Teams liegen natürlich auf der Hand: Das NoTablet, der NoComputer, das NoTV. Wird das No womöglich zum neuen „I-„?

Schweiger erklärt Wenders das Drehbuchschreiben


07 Apr
Foto: Mattia Luigi Nappi (Wikimedia)

Foto: Mattia Luigi Nappi (Wikimedia)

Da gibt es dickleibige Bücher über das Drehbuchschreiben, es gibt hypermoderne Ansätze zum (Achtung: Modewort!) Storytelling, man kann heute an jeder VHS Kurse belegen, um das hundertprozentige Blockbuster-Drehbuch zu schreiben. Aber dann kommt ein Meister seines Fachs, der viel geehrte und verehrte Wim Wenders, und erklärt, dass er von all diesen Drehbuchtheorien keine Ahnung hat und trotzdem grandiose Filme macht. So geschehen im Doppelinterview mit Til Schweiger in der neuesten Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel:

Schweiger: Der Plotpoint nach 70 Minuten – wie in unserem Fall – ist zu spät. Das Mädchen entführt seinen dementen Opa und geht mit ihm auf Reisen. Bei einer Länge von 130 Minuten müsste der erste Plotpoint bei ungefähr 35 Minuten kommen. Doch dann hätte ich nicht die Zeit gehabt, den Verfall des Opas zu zeigen.

Wenders: Ich kann da nicht mitreden. Wie hast du das eben gesagt? Der Plotpoint, der müsste wann gesetzt sein?

Schweiger: Bei 90 Minuten Gesamtlänge bei ungefähr 25 Minuten.

Wenders: Ich habe kein Talent für so etwas. Ich weiß nicht, wann mein Plotpoint kommt. Der Unfall in „Every Thing Will Be Fine“? Der kommt schon nach 15 Minuten. Til, hilf mir.

Schweiger: Der Plotpoint wird dort gesetzt, wo der zweite Akt beginnt. Guck mal, der erste Akt ist die Einführung der Figuren. Danach gehst du in den zweiten Akt.


 

Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2015


26 Feb

Logo_final_beschnittenBei ihrer heutigen Jahrespressekonferenz hat die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. in den Räumlichkeiten ihres Medienpartners Deutschlandfunk in Köln die diesjährigen Top Ten der vernachlässigten Nachrichten vorgestellt. Laut INA sind das:

1. Verkaufte Links: Wie Medien ihre Glaubwürdigkeit untergraben
2. Undurchsichtige Finanzen bei politischen Stiftungen
3. Prekäre Verhältnisse in Ausbildungsberufen
4. Fragwürdiger Umgang mit Patientendaten
5. Weißes Papier, schmutziges Geschäft
6. Überwachung in Skigebieten
7. Arbeitsbedingungen von Strafvollzugsbeamten
8. Facebook erforscht Künstliche Intelligenz
9. Millionen-Grab Polizei-Software
10. Moderne Rasterfahndung per Handy

Eine ausführliche Beschreibung aller Themen findet sich auf der Website der INA. Die INA ist eine Nichtregierungsorganisation, die den blinden Flecken in der medialen Berichterstattung auf den Grund gehen will. Studentische Rechercheteams an Hochschulen und Universitäten in Hamburg, Bremen, Köln, Dortmund, Gelsenkirchen, Stuttgart und München haben übers Jahr Sachverhalte und Relevanz geprüft und sind in Medienanalysen der Vernachlässigung der Storys nachgegangen. Eine 20-köpfige Jury aus Journalisten und Fachwissenschaftlern hat in der vergangenen Woche bei ihrem Jahrestreffen an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln das Ranking diskutiert und abgestimmt. Zu den Jurymitgliedern zählen als Journalisten Edith Dietrich (WDR), Hardy Prothmann (Rheinneckarblog), Petra Sorge (Cicero), Rita Vock (Deutschlandfunk) und Günter Wallraff (als er selbst). Zu den Wissenschaftlern zählen Peter Ludes von der Jacobs University Bremen, Horst Pöttker von der TU Dortmund und Jörg-Uwe Nieland von der Sporthochschule Köln. Hektor Haarkötter, Autor des Handbuchs Die Kunst der Recherche, ist geschäftsführender Vorstand der INA e.V.

Eine Multimediapräsentation der Top Ten der vernachlässigten Nachrichten findet sich auf den Onlineseiten des Deutschlandfunk.

Scientific Google Research Workshop


06 Feb

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter