Archive for the ‘Onlinejournalismus’ Category

Spiegelgate?


20 Dez

Um vorneweg mal eines festzustellen: Dieses Land und dieses Mediensystem brauchen den „Spiegel“. Die Bundesrepublik Deutschland und das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hängen so wesentlich zusammen, dass das eine schwer ohne das andere vorstellbar ist.

Da ist der Betrugsskandal um die gefälschten Reportagen eines „Spiegel“-Autors umso schmerzlicher. Es ist schon wahr, auch andere große Medien haben Fälschungs-Geschichten hinter sich, bis hin zur „New York Times“ und dem Skandal um Reporter Jason Blair, den man einst beim „Spiegel“ nachlesen konnte. Aber der „Spiegel“?

Da ist die hochgelobte Abteilung „Dokumentation“. 60 Redakteur/innen haben dort nur die Aufgabe, Fact-Checking zu betreiben und die Beiträge für den „Spiegel“ auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Natürlich steht diese Abteilung nun in Rede, und was der „Spiegel“ zu den möglichen Fehlern dort zu sagen hat, ist irgendwie unbefriedigend:

„Nicht prüfen kann die Dok naturgemäß Dinge, die ein Reporter vor Ort exklusiv recherchiert hat und die bisher unbekannt, also nirgendwo berichtet wurden. Wo Journalisten mit den Protagonisten ihrer Geschichte allein sind, wo sie Vieraugengespräche mit ihren Informanten führen, endet der Zugang der Dok: „Informanten der Redaktion, die Objekt einer Geschichte sind, dürfen nur nach Absprache mit der Redaktion befragt werden“, heißt es in den Verifikationsrichtlinien. Die Dokumentation prüft auch keine Reisekostenbelege und Spesenabrechnungen von Autoren oder checkt nach, ob sie wirklich in dieser Stadt oder jenem Hotel waren, ob die Kilometer auf ihrem Mietwagen zusammenpassen mit den Stationen einer Reise, die ihr Text beschreibt. Nicht nur wäre der Aufwand kaum zu bewerkstelligen. Die Dok hat dazu auch kein Mandat. Ihre Aufgabe ist die Textkontrolle, nicht die Personenkontrolle“.

Naja, wenn Protagonisten erfunden werden und angebliche Interviews nie geführt wurden, kann man nicht von Fact-Checking reden: Es geht dabei auch weder um Text-, noch um Personen-Kontrolle, sondern um Tatsachen-Kontrolle. Wenn Tatsachen in Spiegel-Artikeln nicht stimmen, hat die Kontrolle offensichtlich versagt.

Da hilft es auch nicht, dass der Autor und seine (erschwindelten) Reportagen preisgekrönt sind — im Gegenteil. Hier gilt vielleicht so sehr wie selten sonst das alte Journalistenwort „Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen“. Das journalistische und mediale Preiswesen soll ja angeblich zur Qualitätssicherung im Journalismus beitragen — doch die zahlreichen Preise an den Fake-Autor des „Spiegel“ zeigen überdeutlich, dass das nicht der Fall ist. Was hier ausgezeichnet wird, ist die Gefälligkeit eines Beitrags, das „Gutgeschriebene“ an ihm, und was die Preisjurys unseres Mediensystems für auszeichnungswürdig befinden, ist gerade jenes Exzentrische, Ausgefallene und Ungewöhnliche, das eigentlich den Blick dafür schärfen sollte, dass hier vielleicht etwas nicht stimmen könnte: Wenn etwas zu schön scheint, um wahr zu sein, dann ist es eben häufig auch nicht wahr. Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fragt auf Twitter, ob nicht die Darstellungsform der Reportage

„Ob Sätze falsch sind, hat nicht nur mit den Sachverhalten zu tun, die sie angeblich beschreiben. Die ganze Form der sog. Reportage reproduziert das Mißverständnis, man könne Literatur produzieren, ohne das Kleingedruckte zu beachten. Was dann halt Kitsch und Lüge ist.“

Man könnte auch fragen: Trägt nicht die Reportage mit ihrem Gestus des Gelungenen gerade zum Mißlingen bei?

Was nicht nur die Journalistenpreise zeigen, ist, dass im Journalismus alles seinen Preis hat. Dennoch stößt es, bei aller lobenswerten Offenheit, mit dem die „Spiegel“-Redaktion nun den Fake-Skandal aufzuklären versucht, recht bitter auf, dass man auf „Spiegel Online“ neben den langen Aufklärungs-Riemen die nun inkriminierten Reportagen des „Spiegel“-Lügenbarons verlinkt und mit dem „Spiegel-Plus“-Logo deutlich macht, dass aber gefälligst bezahlen soll, wer sich selbst von der Dreistigkeit des journalistischen Betrugs überzeugen will.

Erst die Leser/innen betuppen und sie dann auch noch dafür berappen lassen? Das sieht natürlich unverfroren aus, selbst wenn es vielleicht nur ein Lapsus ist. Solche Bezahlangebote im Online-Journalismus heißen übrigens „Premium“ — darüber würde ich als „Spiegel Online“-Redaktion noch einmal nachdenken. Nein, diese Reportagen müssen natürlich sofort aus dem Angebot des „Spiegel“ heraus oder in einen, selbstredend kostenfreien, eigenen Onlinebereich zur Dokumentation der Affäre.

Ob ich jetzt mein „Spiegel“-Abo kündige? Selbstverständlich nicht. Dieses Land braucht den „Spiegel“, und ich brauche ihn auch, immer Freitag abends als EPaper. Die Gesellschafts-Reportagen lese ich übrigens nur selten — ich schätze eher die Nachrichten in Deutschlands einzigem Nachrichtenmagazin.

Österreich: Fake News im Wahlkampf


10 Okt
SPÖ-Wahlplakat

SPÖ-Wahlplakat (Foto: SPÖ/Astrid Knie cc)

Fake News sind ja irgendwie gerade ein Modewort mit etwas unscharfen Begriffsrändern. Es handelt sich dabei um bewusste Falschmeldungen, die teils scherzhaft, teils aber auch zur Verfolgung einer klaren Agenda insbesondere über Social Media verbreitet werden.

Nun haben Fake News dem österreichischen Wahlkampf einen ganz neuen Spin gegeben. Hier sind es die großen Parteien, die zur Nationalratswahl antreten, selbst, die sich mit Fake News, gefaketen Internetprofilen und gefälschten Studien gegenseitig überziehen. Der Skandal ist so groß, dass die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Die politische Kultur in Wien sinkt wenige Tage vor der Parlamentswahl auf ungeahnte Tiefen“.

Zwei gefälschte Facebook-Seiten stehen im Zentrum des Konflikts. Die eine heißt „Wir für Sebastian Kurz“ und spiegelt vor, eine Fanseite des Kanzlerkandidaten der konservativen  ÖVP Sebastian Kurz zu sein. Diese Seite tat sich besonders damit hervor, rechtspopulistische Töne anzuschlagen und so zu tun, als stünde die ÖVP und ihr jugendlich wirkender Kandidat auf der ganz rechten Seite des politischen Spektrums. Die andere Facebook-Seite trug den Titel „Die Wahrheit über Sebastian Kurz“ und verbreitete Fake News mit rassistischem und antisemitischem G’schmäckle.

Hinter beiden Seiten aber stand nach Recherchen der österreichischen Tageszeitung Die Presse der  von der SPÖ angeheuerte israelische Wahlkampfberater Tal Silberstein. Mit beiden Seiten sollten entweder zur politischen Mitte oder eben auch zu rechtspopulistischen Ansichten neigende Wähler von einer Wahl von Kunz abgeschreckt werden. Es soll dafür sogar eine Kommunikations-Task-Force gegeben haben, die mit 500.000 Euro üppig ausgestattet war. Aufgeflogen ist der Casus, weil Silberstein im August in Israel wegen Korruptionsverdacht inhaftiert worden ist.

Gefakete Facebook-Seite

Gefakete Facebook-Seite

Aber nicht die SPÖ arbeitet mit, wie Die Presse es nennt, „Schmutzkübel-Kampagnen“ und lässt damit die Wahlchancen des amtierenden SPÖ-Kanzlers Kern ins Bodenlose sinken. Auch die ÖVP von Sebastian Kurz ist sich für „dirty campaigning“ nicht zu schade und arbeitet im Wahlkampf mit Fake-News. Eine Studie über „Islamkindergärten“ soll von Beamten des österreichischen Außenministeriums, dem Sebastian Kurz als Minister vorsteht, so frisiert worden sein, dass ihre Aussage in Teilen ins Gegenteil verkehrt wurde. Die Wiener Wochenzeitung Falter spricht von „Kurz-Leaks“ und einem „Frisier-Salon Kurz“.

Kölner Forum für Journalismuskritik


08 Jun

_DSC7952Nun ist es Tradition: Zum 3. Mal fand diesen Monat das Kölner Forum für Journalismuskritik statt. Veranstaltet haben es die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. und der Deutschlandfunk. In diesem Rahmen wurde auch zum 3. Mal der Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik verliehen. Er ging in diesem Jahr an den türkischen Investigativ-Journalisten Ahmet Sik, der momentan in Haft ist, das deutsch-türkische Journalistenprojekt taz.gazete sowie an den Buchautor Stefan Schulz. Das Preisgeld wurde in diesem Jahr von Wallraffs Kölner Haussender RTL gestiftet. Eine ausführliche Berichterstattung über das Forum findet sich auf der Website des Deutschlandfunk. Auch die Initiative Nachrichtenaufklärung hält vielfältige Informationen bereit. Auch im kommenden Jahr soll das Forum wieder über die Bühne des Kammermusiksaals des Deutschlandfunk gehen.

Exklusive Probefahrt im neuen BMW?


19 Sep
bmw_5er_test

Foto: BMW

Da hat AutoBILD aber mal wieder so richtig die Nase vorn gehabt. Erst Anfang des neuen Jahres soll der neue 5er-BMW vorgestellt werden, aber die AutoBILD-Reporter haben ihn jetzt schon. In der Einsamkeit walisischer Hügel und Schafherden dürfen sie ihre exklusive Fahrt ins Blaue machen:

„Der neue BMW 5er wird Mitte Oktober vorgestellt. AUTO BILD ist exklusiv mit einem 530d-Prototyp unterwegs gewesen“.

Für so viel Exklusivität bedankt sich Autor Stefan Voswinkel natürlich artig, und neben der Motorjournalismus-typischen Hubraum-Metaphorik und Kardanwellen-Poesie wird ein kleines Fazit spendiert, dass die PR- und Markting-Abteilung des bayerischen Autobauers jubeln lassen wird:

„Am Ende dieser ersten Testfahrt hat der 5er technisch deutlich mehr überrascht als gedacht. So konservativ er gezeichnet ist, so erfrischend lässt er sich durch jede Menge Feinarbeit im Detail bewegen, macht Spaß wie nie zuvor“.

Exklusivität heißt übrigens so viel wie „Ausschließlichkeit“. Journalistisch drückt man damit im allgemeinen aus, dass man eine Geschichte präsentiert, die sonst niemand hat. Ist das denn wirklich so bei der Spritztour von AutoBILD mit dem neuen 5er BMW?

Welt.de: Der neue 5er macht mehr Spaß als die E-Klasse!

Auto Motor und Sport: Erste Testfahrt im BMW 5er

RP Online: BMW 5er – erste Probefahrt noch mit Tarnkleid

MotorTalk: Neuer BMW 5er (G30): Fahrt im Prototypen

Stern.de: Der König der Business-Klasse katapultiert den Fahrspaß in eine neue Dimension

Mit der letztgenannten Schlagzeile von Stern.de wird AutoBILD nicht nur die Exklusivität, sondern auch noch die Auszeichnung für die ranschmeisserischste Werbephrase in einem Pressebericht genommen. Nein, exklusiv war bei der Testfahrt mit dem neuen BMW-Auto gar nichts. Übrigens war auch ein dpa-Kollege dabei, sodass dessen Fahrbericht sich gleich im Aberdutzend im Internet findet. Es handelte sich hier um eine, vermutlich vom Autobauer finanzierte, Pressereise, bei der ein offenbar großer Tross von Autojournalisten in Britanniens Westen geschafft wurde (inkl. Unterbringung im Luxushotel), um im verklebten und abgedeckten Wagen in Begleitung eines BMW-Ingenieurs eine Runde drehen zu dürfen. Der Testwagen war übrigens auch immer derselbe, wie die verschiedenen Fotos der Motormagazine mit einem Wagen mit immer demselben Nummernschild (M-YM 5431) verraten.

Lustig darum auch die Formulierung der „Autozeitung“:

„Zum Kennenlernen an einem geheimen Ort im Westen Großbritanniens stehen noch größtenteils getarnte Vertreter der neuen 5er-Generation in Reih‘ und Glied. Kein Mensch darf hier mit einem Smartphone herumschlichen. Es gilt höchste Foto-Warnstufe. Für uns gibt es eine Ausnahme“.

Eine Ausnahme gab es offenbar nicht nur für die investigativen Reporter der „Autozeitung“, sondern für jeden BWM-Interessierten, der nicht bei 5 auf den Bäumen war, um dem 5er noch aus dem Weg zu gehen.

Umfahren wird neben walisischen Schafherden auch, dass es eigentlich wenig Neues zu schreiben und nahezu nichts zu sehen ist bei dieser „exklusiven“, „geheimen“ Gelegenheit. Denn nicht nur das äußere Chassis, sondern auch das Innenleben ist bei der Probefahrt noch zugedeckt. AutoBILD löst auch dieses Problem prosaisch:

„Viel interessanter sind eh die inneren Werte. Zwar ist noch alles abgedeckt – was aber zu erkennen ist: Das Layout, die weichen Kunststoffe, der riesige Touchscreen und die optionale Gestensteuerung erinnern an den größeren 7er.“

Das wäre doch mal einen Sprachpreis für die gelungenste paradoxe Formulierung wert: „Viel interessanter sind eh die inneren Werte. Zwar ist noch alles abgedeckt …“. Benjamin Bessinger von RP Online hat regelrecht Feuer gefangen für das Gefährt — oder für die schicke Pressereise, zu der er auch beim nächsten Mal wieder eingeladen werden möchte:

„Der neue Fünfer fühlt sich auf den engen Straßen tatsächlich engagierter an als seine Konkurrenten und schürt ein Feuer im Fahrer, als wäre er ein verkappter Sportwagen, den man nur widerwillig in das Gewand einer Limousine gesteckt hat“.

Auch Thomas Geiger von der Tageszeitung Die Welt möchte gerne beim nächsten Mal wieder eingeladen werden und übernimmt entsprechend hörig die PR-Formulierungen aus dem Marketing-Booklet für Journalismus-Autisten:

„Auf den rauen, welligen Pisten in regnerischen Hügellandschaften perfektionieren sie [die BMW-Ingenieure] zwischen Schafsweiden und Moorwiesen eine Tugend, die in Zeiten der Digitalisierung fast ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, obwohl BMW sie wie einen Nachnamen sogar im Firmenschriftzug führt: die Freude am Fahren“.

Was die meisten dieser ach so exklusiven Geschichten nicht sagen, ist, dass es über das neue Auto von BMW gar nicht so viel zu sagen gibt, weil es sich vom Vorgänger der gleichen Baureihe kaum unterscheidet. Auto Motor und Sport spricht es im Nebensatz aus, wenn das Blatt feststellt, dass der neue 5er nur „behutsam verändert“ worden ist. Das Resümee von Stefan Miete von der „Autozeitung“ (H.20/2016) wird schon etwas deutlicher, wenn er notiert, dass eine „Designrevolution“ ausgeblieben sei. Immerhin liefert er auch eine Begründung, warum es eigentlich nichts Neues zu erzählen gibt:

„Kunden der Oberklasse schätzen Kontinuität“.

Shakespeare würde an dieser Stelle sagen: Viel Lärm um Nichts.

 

Wie pressemäßig ist die Tagesschau-App?


05 Mai

In der vergangenen Woche hat der Bundesgerichtshof (BGH) ein einschneidendes Urteil gesprochen. Geklagt hatten die deutschen Zeitungsverleger schon durch drei Instanzen gegen sie Smartphone-App der ARD-Tagesschau. Das Angebot der Öffentlich-Rechtlichen und damit Gebührenfinanzierten sei zu „pressemäßig“ und würde damit die Wettbewerbschancen der privaten Zeitungsanbieter im schwierigen Onlinemarkt mindern, die nicht nur ihre eigenen Onlineangebote privat, z.B. über Werbung, finanzieren müssten, sondern auch darauf angewiesen seien, damit Geld zu verdienen.

Wie die „pressemäßige“ Ausschlachtung eines Themas durch die Redaktion ARD-Aktuell funktioniert, dafür ist der gegenwärtige Streik der Lokomotivführer ein gutes Beispiel. Neben der umfangreichen Berichterstattung in der 20 Uhr-Ausgabe der Tagesschau verweist Jens Riewa auf das umfangreiche Zusatzmaterial, das die Onlineredaktion tagesschau.de bereithält und das auch über die Smartphone-App verfügbar ist.

tagesschau_de_bahnstreik

Aber wer, der mit dieser kräftigen Portion Eigenwerbung auf die öffentlich-rechtliche Website geht oder die Tagesschau-App benutzt, wird noch die ebenso umfangreichen Hintergrundinformationen auf sueddeutsche.de nutzen oder sich den Bahnstreik-Ticker auf welt.de zu Gemüte führen? Im Falle Google sind hochgradig strafbewehrte Verfahren bei der EU-Kommission anhängig, wie auch Tagesschau.de zu berichten weiß, weil der amerikanische Suchmaschinenbetreiber unter Umständen seine Marktmacht ausnutzt, um eigene Internetangebote durchzusetzen. Aber was macht die Tagesschau-Redaktion mit diesem offensichtlichen Stück Crosspromotion anderes, als die eigene Marktmacht im Fernsehen auszunutzen, um das hauseigene Internetangebot zu promoten? Da kann kein privater Zeitungs- und Onlineanbieter mithalten.

SZ schafft den Onlinejournalismus ab


25 Mrz
Screenshot: Neuer Webauftritt der SZ

Screenshot: Neuer Webauftritt der SZ

Die Süddeutsche Zeitung hat ihren Onlineauftritt neuerlich relauncht: Gedruckte Zeitung und Internetangebot sollen zusammenwachsen. Damit wird nun auch für die Leser manifest, was sich organisatorisch mit der Aufnahme des Onlineleiters in den Kreis der Chefredaktion im vergangenen Jahr schon abzeichnete. Dabei löste gerade diese Beförderung beinahe einen „Kulturkampf“ in der SZ-Redaktion aus und brachte das schöne Buzzword „Hoodiejournalismus“ mit sich. Das Bemerkenswerte an diesem Relaunch ist, dass die Süddeutsche nicht mehr zwischen Online- und Printjournalismus unterscheiden will: Im neuen Seitenkopf des Onlineauftritts wird das auch dadurch deutlich, dass „sz.de“, „Zeitung“ und „Magazin“ in einer Eintracht nebeneinander stehen, die sich wahrscheinlich redaktionell und personell erst noch beweisen muss. Dem Süddeutschen Magazin wird bei der Gelegenheit gleich ein komplett neuer Auftritt spendiert. In Ankündigungstext zum Relaunch heißt es:

Für eine Zeitung im modern verstandenen Sinne soll es keinen Unterschied mehr machen, wo und wie sie erscheint, ob als ständig aktualisierte Nachrichtenseite oder als tägliche Ausgabe, digital oder auf Papier.

szplus02Zusammen mit dem optischen und redaktionellen Relaunch wird ein neues Pay-System eingeführt, das „SZ plus“ heißt. Für einen Tagespreis von 1,99 Euro hat der Leser Zugriff auf alle Angebote von sz.de bis zur Digitalversion der gedruckten Zeitung, entweder mittels App oder als Epaper. Zum Relaunch gibt es noch ein spezielles Angebot, nämlich einen 2-wöchigen kostenlosen Probezugang.

Der letzte Relaunch von SZ Online ist erst gute zwei Jahre her. Schon damals erwies sich das Team um Stefan Plöchinger als eines der innovativsten im deutschen Onlinejournalismus. Besonders die Schlichtheit der Seite zusammen mit einem großen Maß an Usability wussten da schon zu überzeugen: Dazu zählen kurze Zusammenfassungen der Onlinetexte direkt nach dem Lead mit Bulletpoints oder auch die Rubrik mit den Netzempfehlungen aus anderen Redaktionen, was SZ-intern wohl anfangs nicht nur Befürworter fand, aber „in the long run“ den SZ-Online-Auftritt zu einem kompetenten Lotsen durch die Welt der Onlineinformationsbeschaffung machte.

Am neuen Online-Layout fällt vor allem auf, dass der untere Teil der Webseite fast nur noch aus großformatigen Bildern bzw. bebilderten Beiträgen besteht: In Zeiten des „visual turn“ vermutlich kein Wunder, sondern eine Referenz an den multimedialen Zeitgeist.

Der Onlinejournalismus ist tot — der Printjournalismus aber auch: Es lebe der Journalismus!

Neues aus der Floskelwolke


04 Dez

„Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen“, hat einst der Wiener Sprach- und Journalismus-Kritiker Karl Kraus geschrieben. Gerade die journalistische Sprache ist voll von Floskeln und stehenden Wendungen. Das hat häufig mit dem Zeit- und Aktualitätsdruck zu tun, unter dem journalistisch produziert wird: Ein Gemeinplatz ist da schneller aufgeschrieben als die originelle Formulierung.

Die beiden Nachrichtenjournalisten Udo Stiehl und Sebastian Pertsch haben nun im Internet die „Floskelwolke“ aufgehen lassen. Sie beschreiben ihr Projekt so:

Wer fast täglich mit Nachrichten zu tun hat, dem sind die altbekannten Formulierungen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport geläufig. Sie tauchen immer wieder auf, obwohl sie abgedroschen sind oder journalistischen Maßstäben nicht genügen. Wir Redakteure wissen das. Unser Publikum bemerkt es nur selten. Und die PR weiß das auszunutzen. (…) Wir greifen bei der Auswahl der Begriffe auf unsere Erfahrungen im Nachrichtengeschäft zurück. Anprangern wollen wir nicht. Wir möchten nur ein wenig nachdenklich machen.

Der Aufwand, den die beiden journalistischen Sprachkritiker betreiben, ist enorm. Es handelt sich um ein Beispiel für Datenjournalismus reinsten Wassers:

Wir werten die Websites nahezu aller deutschsprachigen Zeitungen, Radiosender, Fernsehsender und Magazine in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus. Die bald startenden SocialMedia-Charts der Medien von Sebastian Pertsch sind Grundlage für diese Erhebung. Für die Floskelwolke analysieren wir rund 1.600 Domains, die etwa 2.400 Medien (inklusive Ressorts) repräsentieren.

 Die Darstellung erfolgt dann tatsächlich als Wortwolke oder „Wordl“ als auch statistisch aufbereitet als täglich aktualisiertes Säulendiagramm:
Screenshot Floskelwolke

Screenshot Floskelwolke

Alle Daten lassen sich auch als csv-Datei herunterladen, um selbst seine Datenanalysen am Floskelmaterial zu betreiben.

Fehlender Verstand: „Sexy Selfies“ auf bild.de


30 Okt
Screenshot bild.de

Screenshot bild.de

Die Redaktion von bild.de ruft in ihrer Fotocommunity 1414 dazu auf, „sexy selfies“ von sich hochzuladen. Und das mit einer durchaus paradoxen Aufgabenstellung – O-Ton:

Du bist eine absolute Schnappschuss-Queen oder Frauenschwarm und inszenierst dich am liebsten selbst? Dann zeige uns deine Schokoladenseite und schieße uns ein Bett-Selfie, Bikini-Selfie oder Dusch-Selfie – Hauptsache sexy! Ganz wichtig ist übrigens das richtige Posieren: Brust raus, Po raus, Bauch rein und als Mann die Muskeln anspannen. Zeigt ruhig etwas Haut, aber achtet darauf, nicht zu viel zu zeigen

Den zwei Gewinnern, die von einer „Jury“ ermittelt werden, winken sage und schreibe 100,- Euro für die Selbstentblößung. Der Medien-Branchendienst turi2 urteilt, das Ergebnis lasse „am Verstand der Menschheit zweifeln“.

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter