Es ist mehr als ein Jahrzehnt her, da war ich auf der Computermesse CeBit bei einem Vortrag des damals angesagtesten aller Computer-Gurus, Kai Krause. Dieser sprach ein Loblied auf ein phantastisches Medium, das Terabyte an Informationen bereithalte, gestochen scharfe Grafiken und Bilder darstellen könne und noch dazu ungeheuer flexibel zu handhaben sei. Und dann hielt der Programmierer von „Kai’s Powertools“ oder „SuperGoo“ — ein Buch in die Höhe, ein stinknormales altmodisches Buch.
Visionär war der Guru vielleicht auch mit dieser Performance. Dies scheinen nun Bildungsforscher, laut einem Bericht im Kulturteil der heutigen Süddeutschen Zeitung, empirisch bestätigen zu können. Eine aktuelle Studie des „Computer Supported Collaboration Lab“, einer Einrichtung der Universität von Washington in Seattle lasse Zweifel aufkommen, wie reif das eBook als Lehr- und Lernmittel schon ist. Über ein ganzes Studienjahr hinweg hätten die Forscher 39 Studenten, die von der Universität mit Amazons Kindle DX ausgestattet worden waren, über ihre Lese- und Arbeitsgewohnheiten befragt und zum Führen von Tagebüchern angehalten. Das Ergebnis sei ernüchternd gewesen: Bei Ablauf des Untersuchungszeitraums hätten zwei Drittel der Studenten den Gebrauch des Lesegeräts in ihrem Studienalltag entweder ganz eingestellt, oder auf wenige Situationen, wie zum Beispiel Busfahrten beschränkt. Die besonderen Anforderungen, die das kognitiv anspruchsvolle Lesen im akademischen Umfeld mit sich brächte, könnten die eBook-Reader dagegen kaum erfüllen.
Während das rezeptive Lesen, also die reine, sequenzielle Aufnahme von Text, auf den Lesegeräten recht problemlos funktionierte, stießen die Testpersonen bei ihren individuellen Methoden des sogenannten „reagierenden Lesens“ auf große Hindernisse. Als „reagierendes Lesen“ bezeichnet man die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Text während des Lesevorgangs. Jeder einzelne Leser kombiniert dafür ganz idiosynkratisch Unterstreichungen, Anmerkungen, Exzerpte, Visualisierungen und Lesezeichen. In der Praxis wechseln die Studenten zudem unablässig zwischen Lesetechniken wie Überfliegen, Querlesen oder Anblättern hin und her. Nur ein Informationsträger, der der Gesamtheit dieser Methoden und dem flexiblen Wechsel zwischen ihnen möglichst optimal gerecht wird, kann den Erfordernissen wissenschaftlicher Arbeit entsprechen.
Ein E-Book erfülle nun offenbar genau diese Voraussetzungen sehr schlecht. Das wirklich substanziellste Problem, das die Untersuchung offenbart habe, läge aber
in der Unfähigkeit der meisten Probanden, ein elektronisches Buch auch nur annähernd ähnlich effektiv im Geiste zu kartographieren, wie es ihnen mit klassischen Büchern gelingt. Informationen in einem Buch findet man intuitiv wieder; man hat sich ihr Auftauchen im Text geografisch eingeprägt: oben rechts oder unten links auf einer Doppelseite, kurz nach einer Illustration oder eine Seite vor dem Kapitelende. Beim Kindle gelang den Probanden all dies nicht.
Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan prophezeite schon in den 60er Jahren das Ende der Gutenberg-Galaxis. Vielleicht hat er ja schlicht geirrt.
[…] Die Klage darüber, dass die „digital natives“ keine Bücher mehr lesen, sondern nur noch vor dem Schirm sitzen und chatten/twittern/spielen würden, ist nicht wirklich etwas neues, denn bei jedem Medium wurde das Ende des Buches vorhergesagt. Auch das Ebook wird – aller Erfolge zum Trotz – die geduckte Variante nicht endgültig ablösen: Eine jüngst veröffentlichte Studie („The Imposition and Superimposition of Digital Reading Technology: The Academic Potential of E-readers“) der Universität von Washington in Seattle zeigte auf, dass gerade das beim Lernen so wichtige „reagierende Lesen“ bei E-Books nicht möglich ist. […]