Literarischer Frühjahrsputz?

26 Mai

Die besondere Qualität des Qualitätsjournalismus besteht auch darin, in aller Öffentlichkeit Fragen zu stellen, die eigentlich überhaupt niemand sich stellt. In dieser Kunst hat es die Wochenzeitung Die Zeit besonders weit gebracht. In dieser Woche stellt sie sich und uns allen Ernstes folgende Frage:

Gibt es Klassiker, die sich überholt haben? Ist Weltliteratur völlig unabhängig von Moden, Zeiten und Geschmack? Junge deutsche Autoren prüfen den Literaturkanon.

Ein Schelm, wer ernsthaft Solches behaupten wollte. Aber das ficht Die Zeit nicht an. Und die bemühten Antwortgeber auch nicht. Wiewohl: Wie sollte es anders als mühselig sein, Fragen zu beantworten, die sich nicht stellen. Da findet jemand Die Rättin von Günter Grass nicht gut? Wie billig! Da schreibt jemand:

Kein gutes Gedicht hinterließ Erich Fried . Es ist, was es ist – um des lieben Frühlings willen, raus damit aus dem Regal.

Gute Güte! Das ist kernige Literaturkritik! Und Jung-Autor Clemens Setz aus Österreich urteilt über Ingeborg Bachmann:

So viele Leute, nein, im Grunde fast alle, die ich kenne, lieben und verehren Ingeborg Bachmanns Malina . Ich nicht. Die Leute lesen es und loben hinterher jedes Mal dasselbe: die wunderbare Art, mit der dargestellt wird, wie das weibliche Ich (denn das ist die Hauptfigur in diesem Buch und nicht mehr, keine dreidimensionale Figur) an der männlich dominierten Welt zugrunde geht. Und ich verstehe sogar, warum sich so viele Leute darüber freuen – und freue mich leider nie mit. Denn dieser Roman ist in seiner ungenauen, mal rezitativartigen, mal pathetisch überhöhten Hilflosigkeitsprosa für mich wirklich kaum zu ertragen.

Auf Fragen, die sich nicht stellen, erhält man eben auch Antworten, die auf nichts antworten. Denn mal im Ernst: Niemand liebt Malina. Niemand lobt das Buch und vor allem: niemand liest es. Bachmanns Roman ist genau so, wie der Jungautor es beschreibt, und im Grunde würde vermutlich selbst die Autorin, würde Ingeborg Bachmann selbst der Beschreibung zustimmen.

Und womit haben wir eigentlich eine Suada von solch erlesener Ausgewogenheit, literarischer Kennerschaft und Feinsinnigkeit verdient, wie sie uns die 1982 geborene Autorin Nora Bossong auftischt:

Ach, Herr Brecht, zweieinhalbtausend Gedichte sind zu viel. Gedichte sollten nicht zur Massenware werden, das gilt auch für die Marxisten unter ihnen. Sie waren immer aktuell, so aktuell, dass ich die Zeitlosigkeit dazwischen gar nicht finde. Die Subtilität, nebenbei bemerkt, auch nicht. Lehrer lieben Sie. Und Schüler haben Sie zu lieben, gefälligst! Lieber Herr Brecht, Sie sind überall, und Sie sind überall berühmt. Hätte Sie eine solche Monokultur, von außen betrachtet, nicht auch skeptisch gemacht? Sie wussten alles, und Sie wussten alles besser, und Sie wussten es, noch ehe das erste Wort auf dem Papier stand. Eine Aussage, die vor den Worten feststeht und ihnen nur aufgedrängt wird, halte ich für eine dubiose Federführung, bei der die Worte lediglich als Kanonenfutter herhalten.

Brecht hätte sehr wohl darauf zu antworten gewusst, und nicht nur er hätte die Antwort auf diesen literarischen Schulmädchenreport im voraus gekannt. Aber wie die meisten Klassiker kann auch Herr Brecht sich leider nicht mehr wehren: Das macht die Klassikerkritik der Nachgeborenen (oh pardon, ein Brechtismus!) so schal und peinlich. Ach nein, da lese ich doch lieber die Klassiker.

Literatur – Rezensionen, Debatten und Porträts | ZEIT ONLINE

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