Posts Tagged ‘Qualitätsjournalismus’

Journalismus trifft auf Wanze


02 Apr
Foto onated by the World Health Organization, Geneva, CH

Foto donated by the World Health Organization, Geneva, CH

Gestern traf ich am hellichten Tag in einem Kölner Straßencafé einen alten Bekannten. Er ist Hörfunkjournalist von Beruf. „Nanu“, sagte ich zu ihm, „am helllichten Tag nicht bei der Arbeit?“

Er setzte sich zu mir an den Tisch und bestellte seinerseits einen Kaffee. „Ach weißt du, ich hatte mehrere aktuelle Themenvorschläge“, erklärte er mir. „Aber alle sind abgelehnt worden, weil die Redaktion ein wichtigeres Thema hatte“. Der Kollege arbeitet übrigens, das sollte noch dazu erwähnt werden, seit vielen Jahren für die Regionalredaktion des WDR. Er besucht Ratssitzungen, er geht zu Parteitagen, er kennt sich aus.

„Was gab es denn Wichtigeres?“ erkundigte ich mich und nippte an meinem Cappuccino.

„Sie haben Wanzen gefunden“, erzählte der Radiomann mir. „Seitdem wird rauf und runter in den WDR Regionalnachrichten nur noch über Wanzen berichtet“.

„Wanzen?“ rief ich aufgeregt und hätte beinahe meinen Kaffee verschüttet. Ich witterte NSA und Spione, neueste Abhörschweinereien und den endgültigen Verrat der Privatsphäre. Aber weit gefehlt. „Bettwanzen …“ stöhnte der Kollege verzweifelt. „Sie berichten den ganzen Tag über Bettwanzen in Hotelzimmern!“ Verzweifelt schüttelte sich der arme Kollege. Der Ekel war ihm anzumerken. Aber es handelte sich nicht um den Ekel vor den tierischen Parasiten.

Was macht die Bettwanze so wichtig, dass sie aktuelle Themen aus den WDR Regionalnachrichten verdrängt? Welche Chitin-harte Recherche steckt hinter dem parasitären Befall, die Lokalpolitik, Parteienclinch und Wirtschaftsfakten aus dem Programm verdrängen kann? Sehen wir uns an, was der WDR auf seiner Onlineseite zu bieten hat:

Immer mehr Hotels und Hostels kämpfen laut Schädlingsbekämpfern gegen Bettwanzen. Vor Jahren gab es bundesweit wenige Fälle im Monat, mittlerweile liegt die Zahl nach Meinung eines Experten im zweistelligen Bereich – und zwar pro Tag. Betroffen sind vor allem Messestädte wie Köln.

Statt knallharter Fakten oder überprüfbarer Zahlen also doch nur wieder ein weiteres Beispiel für den „Immermehrismus„. Aber vermutlich hat der WDR einen Kronzeugen, der die eigentümliche Hypothese untermauern kann:

Der Kölner Schädlingsbekämpfer Achim Reinold weiß zu berichten, dass die winzigen Schädlinge sich inzwischen wieder verbreitet haben: „Vor zehn Jahren hatten wir bundesweit einen Auftrag pro Monat, jetzt sind es täglich zweistellige Zahlen.“

Das klingt zwar vorderhand überzeugend, aber man muss natürlich bedenken, dass der zitierte Fachmann ein wirtschaftliches Eigeninteresse hat, die für ihn profitable Situation eines angeblich zunehmenden Schädlingsbefalls zu dramatisieren. Ein unabhängiger Experte ist etwas anderes.

Auch die Aktualität dieses „Nachrichten-Themas“ lässt sich mit etwas Googlen stark relativieren. In zyklischen Abständen tauchen in der Presse immer wieder dieselben Berichte über Krabbeltiere, Nager und anderes Ungeziefer auf, die wahlweise aus exotischen Ländern, aus Industrieverpackungen oder wegen des Klimawandels die hiesigen Breiten überfallen sollen. So berichtete „brandaktuell“ über die angebliche Bettwanzen-Epidemie RTL im vergangenen Herbst, die Apothekenumschau vor einem Jahr im Frühling, die Badische Zeitung im Jahr 2012, der Spiegel im Jahr 2011, die Tageszeitung Die Welt desgleichen, das Wochenblatt Die Zeit anno 2010, das Bild der Wissenschaft 2009 usw. usf.

Nicht die „Zahl der Bettwanzen in Deutschland steigt rasant“, wie die WAZ dichtete, sondern nur die Berichterstattung darüber. Wie es sich tatsächlich mit den Steigerungszahlen des Wanzenbefalls verhält, ist auch online in einem journalistischen Medium nachzulesen, nämlich bei news.de. Dort erfährt man:

Beim Berliner Hotel- und Gaststättenverband spricht Geschäftsführer Thomas Lengfelder in Sachen Bettwanzen von «vereinzelten Fällen» in Hauptstadt-Herbergen. Der bundesweite Hotelverband führt keine Bettwanzen-Statistik. Das Problem nehme aber nicht zu, versichert Sprecher Christoph Lück.

Kurioserweise findet sich dieser Beitrag unter der Überschrift „Eklig! Bettwanzen sind wieder auf dem Vormarsch!“

Mein Kollege hat sich in der Zwischenzeit zu seinem Kaffee noch einen Cognac bestellt und stürzt ihn in einem Schluck hinunter. „Ob das gegen Wanzen hilft?“ frage ich ihn mitleidig. „Nein“, antwortet aber, „aber gegen Qualitätsjournalismus“.

Werbung für guten Journalismus?


02 Feb

Der österreichische Journalist Florian Klenk, seines Zeichens Chefredakteur des Wiener Stadtmagazins Falter, hat eine recht entlarvende Abbildung auf seiner Facebook-Seite gepostet:

Heute_at_Screenshot

Die österreichische Zeitung “Heute” hat sich übrigens im vergangenen Herbst etwas Besonderes einfallen lassen, wie ihr Redaktionsleiter auf der Website ankündigte:

Wenn Sie Ihre heutige Zeitung durchblättern, werden Sie am Ende eines jeden Artikels einen roten Punkt entdecken. An sich wäre ein Punkt zum Schluss nichts bemerkenswertes. Doch dieser schon. Er ist unser Zeichen dafür, dass der jeweilige Artikel das Thema klar und verständlich auf den Punkt gebracht hat.

Würde sich “Heute” doch um Grammatik und Orthographie ebenso kümmern wie um (rote) Interpunktion!

http://meedia.de/wp-content/uploads/2014/01/Bildschirmfoto-2014-01-31-um-12.46.15.png

WAZ-Chef: Lieber lokal als Qualitätsjournalismus


02 Apr

Bemerkenswerte Ansichten hat der WAZ-Chef Manfred Braun kürzlich in der Fachzeitschrift “Medienwirtschaft” geäußert. Die WAZ-Mediengruppe (heute: Funke-Mediengruppe) hatte im vergangenen Jahr die “Westfälische Rundschau” dicht gemacht, jetzt Ende März kam heraus, dass weitere 200 Stellen in Nordrhein-Westfalen wegfallen sollen. Braun zog eine interessante Trennlinie und erklärte nun, ihm gehe Lesernähe vor journalistischer Qualität. Viele Zeitungsredakteure würden "immer noch Zeitungen für sich und die Journalistenkollegen" produzieren, dabei aber die Leser vollkommen vergessen, zitiert die "MedienWirtschaft" Braun. Das von allen Journalisten gelebte Denken in Geschichten würde von den Lesern nicht in der Wertigkeit wahrgenommen, wie der KressReport aus dem Interview zitiert, das der Dortmunder Journalistikprofessor Frank Lobigs geführt hatte.

Funke-Chef Braun zum Stellenabbau in NRW: Lesernah und lokal statt journalistisch hochwertig: kress.de

In 80 Fehlern um die “Welt”


20 Apr

Wenn JournalistInnen Zahlen verwenden, ist stets größte Vorsicht angebracht: In den allermeisten Fällen, in denen in Zeitungen und Fernsehnachrichten mit Zahlen jongliert wird, sind die Angaben falsch, missverständlich oder unvollständig. Das gilt im übrigen auch für sogenannte Qualitätsmedien. Überraschend war aber doch die Anzahl an Fehlern, die mir begegneten, als mir eine nette Bahn-Bedienstete im ICE eine Ausgabe von “Die Welt aktuell” in die Hand drückte. Da fand ich beispielsweise folgendes:

Welt-Statistik02

Nichts lieben Zeitungsjournalisten mehr als Zahlen. Wahlergebnisse, Statistiken, Meinungsumfragen, der Prozentsatz der Ostdeutschen mit krummen Füßen, Gewichte und Maße insbesondere von Frauenleibern, die Länge männlicher Geschlechtsteile, die jährlichen Durchschnittszahlen von Geschlechtsverkehren, Mordtaten oder dem Verzehr von Sacherschnittchen außerhalb Wiens und die kommagenaue Bezifferung des Elends der Welt, all das entnehmen wir täglich der Zeitung.

(mehr …)

Zeitungen: Weglassen als Qualitätskriterium


09 Nov

Manchmal zeigt sich die Qualität einer Zeitung – oder eben auch die fehlende – darin, worüber sie nicht berichtet. So ist heute in der Kölnischen Rundschau folgender Artikel zu lesen:

KRundschau 11_2011

Die neue Haltestelle in der Kölner Südstadt kostet also 447.000 Euro mehr. Das ist sicherlich eine Menge Geld und deswegen von öffentlichem Interesse. Noch interessanter ist allerdings, worüber die Kölnische Rundschau nicht berichtet. Im Kölner Stadtanzeiger ist nämlich am gleichen Tag zu lesen:

Nächste Kostenexplosion im Zusammenhang mit der Nord-Süd-Stadtbahn: Der Fahrstuhl am Alter Markt soll nach der Umplanung 2,2 Millionen Euro mehr kosten. Im Gegenzug wird der in ein Gebäude integrierte Lift auch den Rathausplatz bedienen.

Dass also eine Haltestelle 2,2 Mio. Euro mehr kosten soll, hält die Kölnische Rundschau für nicht so berichtenswert wie die Tatsache, dass eine andere Haltestelle 447 Tsd. Euro mehr kosten wird. Schon eigenartig, was für Qualitätskriterien Zeitungen haben können.

Kosten-Explosion bei U-Bahn-Aufzug – Kölner Stadt-Anzeiger

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter