Gestern traf ich am hellichten Tag in einem Kölner Straßencafé einen alten Bekannten. Er ist Hörfunkjournalist von Beruf. „Nanu“, sagte ich zu ihm, „am helllichten Tag nicht bei der Arbeit?“
Er setzte sich zu mir an den Tisch und bestellte seinerseits einen Kaffee. „Ach weißt du, ich hatte mehrere aktuelle Themenvorschläge“, erklärte er mir. „Aber alle sind abgelehnt worden, weil die Redaktion ein wichtigeres Thema hatte“. Der Kollege arbeitet übrigens, das sollte noch dazu erwähnt werden, seit vielen Jahren für die Regionalredaktion des WDR. Er besucht Ratssitzungen, er geht zu Parteitagen, er kennt sich aus.
„Was gab es denn Wichtigeres?“ erkundigte ich mich und nippte an meinem Cappuccino.
„Sie haben Wanzen gefunden“, erzählte der Radiomann mir. „Seitdem wird rauf und runter in den WDR Regionalnachrichten nur noch über Wanzen berichtet“.
„Wanzen?“ rief ich aufgeregt und hätte beinahe meinen Kaffee verschüttet. Ich witterte NSA und Spione, neueste Abhörschweinereien und den endgültigen Verrat der Privatsphäre. Aber weit gefehlt. „Bettwanzen …“ stöhnte der Kollege verzweifelt. „Sie berichten den ganzen Tag über Bettwanzen in Hotelzimmern!“ Verzweifelt schüttelte sich der arme Kollege. Der Ekel war ihm anzumerken. Aber es handelte sich nicht um den Ekel vor den tierischen Parasiten.
Was macht die Bettwanze so wichtig, dass sie aktuelle Themen aus den WDR Regionalnachrichten verdrängt? Welche Chitin-harte Recherche steckt hinter dem parasitären Befall, die Lokalpolitik, Parteienclinch und Wirtschaftsfakten aus dem Programm verdrängen kann? Sehen wir uns an, was der WDR auf seiner Onlineseite zu bieten hat:
Immer mehr Hotels und Hostels kämpfen laut Schädlingsbekämpfern gegen Bettwanzen. Vor Jahren gab es bundesweit wenige Fälle im Monat, mittlerweile liegt die Zahl nach Meinung eines Experten im zweistelligen Bereich – und zwar pro Tag. Betroffen sind vor allem Messestädte wie Köln.
Statt knallharter Fakten oder überprüfbarer Zahlen also doch nur wieder ein weiteres Beispiel für den „Immermehrismus„. Aber vermutlich hat der WDR einen Kronzeugen, der die eigentümliche Hypothese untermauern kann:
Der Kölner Schädlingsbekämpfer Achim Reinold weiß zu berichten, dass die winzigen Schädlinge sich inzwischen wieder verbreitet haben: „Vor zehn Jahren hatten wir bundesweit einen Auftrag pro Monat, jetzt sind es täglich zweistellige Zahlen.“
Das klingt zwar vorderhand überzeugend, aber man muss natürlich bedenken, dass der zitierte Fachmann ein wirtschaftliches Eigeninteresse hat, die für ihn profitable Situation eines angeblich zunehmenden Schädlingsbefalls zu dramatisieren. Ein unabhängiger Experte ist etwas anderes.
Auch die Aktualität dieses „Nachrichten-Themas“ lässt sich mit etwas Googlen stark relativieren. In zyklischen Abständen tauchen in der Presse immer wieder dieselben Berichte über Krabbeltiere, Nager und anderes Ungeziefer auf, die wahlweise aus exotischen Ländern, aus Industrieverpackungen oder wegen des Klimawandels die hiesigen Breiten überfallen sollen. So berichtete „brandaktuell“ über die angebliche Bettwanzen-Epidemie RTL im vergangenen Herbst, die Apothekenumschau vor einem Jahr im Frühling, die Badische Zeitung im Jahr 2012, der Spiegel im Jahr 2011, die Tageszeitung Die Welt desgleichen, das Wochenblatt Die Zeit anno 2010, das Bild der Wissenschaft 2009 usw. usf.
Nicht die „Zahl der Bettwanzen in Deutschland steigt rasant“, wie die WAZ dichtete, sondern nur die Berichterstattung darüber. Wie es sich tatsächlich mit den Steigerungszahlen des Wanzenbefalls verhält, ist auch online in einem journalistischen Medium nachzulesen, nämlich bei news.de. Dort erfährt man:
Beim Berliner Hotel- und Gaststättenverband spricht Geschäftsführer Thomas Lengfelder in Sachen Bettwanzen von «vereinzelten Fällen» in Hauptstadt-Herbergen. Der bundesweite Hotelverband führt keine Bettwanzen-Statistik. Das Problem nehme aber nicht zu, versichert Sprecher Christoph Lück.
Kurioserweise findet sich dieser Beitrag unter der Überschrift „Eklig! Bettwanzen sind wieder auf dem Vormarsch!“
Mein Kollege hat sich in der Zwischenzeit zu seinem Kaffee noch einen Cognac bestellt und stürzt ihn in einem Schluck hinunter. „Ob das gegen Wanzen hilft?“ frage ich ihn mitleidig. „Nein“, antwortet aber, „aber gegen Qualitätsjournalismus“.