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Spiegelgate?


20 Dez

Um vorneweg mal eines festzustellen: Dieses Land und dieses Mediensystem brauchen den „Spiegel“. Die Bundesrepublik Deutschland und das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hängen so wesentlich zusammen, dass das eine schwer ohne das andere vorstellbar ist.

Da ist der Betrugsskandal um die gefälschten Reportagen eines „Spiegel“-Autors umso schmerzlicher. Es ist schon wahr, auch andere große Medien haben Fälschungs-Geschichten hinter sich, bis hin zur „New York Times“ und dem Skandal um Reporter Jason Blair, den man einst beim „Spiegel“ nachlesen konnte. Aber der „Spiegel“?

Da ist die hochgelobte Abteilung „Dokumentation“. 60 Redakteur/innen haben dort nur die Aufgabe, Fact-Checking zu betreiben und die Beiträge für den „Spiegel“ auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Natürlich steht diese Abteilung nun in Rede, und was der „Spiegel“ zu den möglichen Fehlern dort zu sagen hat, ist irgendwie unbefriedigend:

„Nicht prüfen kann die Dok naturgemäß Dinge, die ein Reporter vor Ort exklusiv recherchiert hat und die bisher unbekannt, also nirgendwo berichtet wurden. Wo Journalisten mit den Protagonisten ihrer Geschichte allein sind, wo sie Vieraugengespräche mit ihren Informanten führen, endet der Zugang der Dok: „Informanten der Redaktion, die Objekt einer Geschichte sind, dürfen nur nach Absprache mit der Redaktion befragt werden“, heißt es in den Verifikationsrichtlinien. Die Dokumentation prüft auch keine Reisekostenbelege und Spesenabrechnungen von Autoren oder checkt nach, ob sie wirklich in dieser Stadt oder jenem Hotel waren, ob die Kilometer auf ihrem Mietwagen zusammenpassen mit den Stationen einer Reise, die ihr Text beschreibt. Nicht nur wäre der Aufwand kaum zu bewerkstelligen. Die Dok hat dazu auch kein Mandat. Ihre Aufgabe ist die Textkontrolle, nicht die Personenkontrolle“.

Naja, wenn Protagonisten erfunden werden und angebliche Interviews nie geführt wurden, kann man nicht von Fact-Checking reden: Es geht dabei auch weder um Text-, noch um Personen-Kontrolle, sondern um Tatsachen-Kontrolle. Wenn Tatsachen in Spiegel-Artikeln nicht stimmen, hat die Kontrolle offensichtlich versagt.

Da hilft es auch nicht, dass der Autor und seine (erschwindelten) Reportagen preisgekrönt sind — im Gegenteil. Hier gilt vielleicht so sehr wie selten sonst das alte Journalistenwort „Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen“. Das journalistische und mediale Preiswesen soll ja angeblich zur Qualitätssicherung im Journalismus beitragen — doch die zahlreichen Preise an den Fake-Autor des „Spiegel“ zeigen überdeutlich, dass das nicht der Fall ist. Was hier ausgezeichnet wird, ist die Gefälligkeit eines Beitrags, das „Gutgeschriebene“ an ihm, und was die Preisjurys unseres Mediensystems für auszeichnungswürdig befinden, ist gerade jenes Exzentrische, Ausgefallene und Ungewöhnliche, das eigentlich den Blick dafür schärfen sollte, dass hier vielleicht etwas nicht stimmen könnte: Wenn etwas zu schön scheint, um wahr zu sein, dann ist es eben häufig auch nicht wahr. Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fragt auf Twitter, ob nicht die Darstellungsform der Reportage

„Ob Sätze falsch sind, hat nicht nur mit den Sachverhalten zu tun, die sie angeblich beschreiben. Die ganze Form der sog. Reportage reproduziert das Mißverständnis, man könne Literatur produzieren, ohne das Kleingedruckte zu beachten. Was dann halt Kitsch und Lüge ist.“

Man könnte auch fragen: Trägt nicht die Reportage mit ihrem Gestus des Gelungenen gerade zum Mißlingen bei?

Was nicht nur die Journalistenpreise zeigen, ist, dass im Journalismus alles seinen Preis hat. Dennoch stößt es, bei aller lobenswerten Offenheit, mit dem die „Spiegel“-Redaktion nun den Fake-Skandal aufzuklären versucht, recht bitter auf, dass man auf „Spiegel Online“ neben den langen Aufklärungs-Riemen die nun inkriminierten Reportagen des „Spiegel“-Lügenbarons verlinkt und mit dem „Spiegel-Plus“-Logo deutlich macht, dass aber gefälligst bezahlen soll, wer sich selbst von der Dreistigkeit des journalistischen Betrugs überzeugen will.

Erst die Leser/innen betuppen und sie dann auch noch dafür berappen lassen? Das sieht natürlich unverfroren aus, selbst wenn es vielleicht nur ein Lapsus ist. Solche Bezahlangebote im Online-Journalismus heißen übrigens „Premium“ — darüber würde ich als „Spiegel Online“-Redaktion noch einmal nachdenken. Nein, diese Reportagen müssen natürlich sofort aus dem Angebot des „Spiegel“ heraus oder in einen, selbstredend kostenfreien, eigenen Onlinebereich zur Dokumentation der Affäre.

Ob ich jetzt mein „Spiegel“-Abo kündige? Selbstverständlich nicht. Dieses Land braucht den „Spiegel“, und ich brauche ihn auch, immer Freitag abends als EPaper. Die Gesellschafts-Reportagen lese ich übrigens nur selten — ich schätze eher die Nachrichten in Deutschlands einzigem Nachrichtenmagazin.

Ein Hamburger für G20


10 Jul

Spiegel_HamburgerDa gibt es ja nun ein paar Kollegen, die das Spiegel-Titelbild vom vergangenen Samstag anlässlich der Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg für nicht ganz adäquat hielten. Also, ich dagegen finde, dass es für einen ganz besonderen Sinn von Ironie spricht, ausgerechnet mit einem „Hamburger“ aufzumachen. Auch „Essen oder nicht essen?“ ist eine Schlagzeile, die kompositorisch ein verzückendes Duett mit den Themen des Gipfels einginge. Im übrigen: Wer hat sich eigentlich nicht über die laufenden Ereignisse bei SPIEGEL ONLINE kundig gemacht? Auch die Reportage gestern Abend in SPIEGEL.TV war ja durchaus nahe dran am Geschehen. Mal davon abgesehen, dass im Innenteil der Printausgabe ein Leitartikel und 12 Seiten mit Beiträgen sich mit G20 auseinandersetzen. Will also wirklich jemand behaupten, das Hamburger Nachrichtenmagazin habe sich nicht genug mit den Ereignissen in Hamburg auseinandergesetzt? Weil das Titelblatt nicht mundete?

Spiegel contra Schwaben: Hauptsache, der Leser hat nicht recht!


13 Aug

Grosses_Landeswappen_Baden-WuerttembergSpiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer hat den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in seiner Kolumne „Der schwarze Kanal“ als „Schwaben“ bezeichnet. So weit, so unrichtig, denn der in Freiburg geborene Schäuble hat zeit seines Lebens in Südbaden gelebt — und bekanntlich wollen Badener und Schwaben so viel miteinander zu tun haben wie Vegetarier mit Schweinsbockwürstchen.

Doch in Zeiten gesteigerter Leser- und User-Partizipation bleibt so ein „faux pas“ natürlich nicht lange unbemerkt. Mehr als 20 Leserbriefe, so , die Leiterin des Spiegel-Leser-Services, hat es allein zu diesem Thema gegeben. Nun wäre der Fleischhauer’sche Lapsus ja leicht zu korrigieren: Eine kleine Richtigstellung im nächsten Heft, und damit hat sich’s. Doch damit wollte Spiegel-Autor Fleischhauer es nicht bewenden lassen. Denn bei all dieser schwäbisch-alemannischen Leser-Besserwisserei muss es doch immer noch einen geben, der es noch besser weiß. Und so meldet sich Fleischhauer in der Leserbriefspalte der Spiegel-Prinz-Ausgabe höchstpersönlich zu Wort und schurigelt seine frechen Kritiker:

Außerhalb von Baden-Württemberg ist der Baden-Württemberger ein Schwabe, so schmerzlich das für die Betroffenen auch sein mag (…) wenn sich ein Begriff als Gesamtbezeichnung einmal eingebürgert hat, ist es schwer, ihn wieder loszuwerden. Vielleicht ändert sich die Lage, wenn Freiburg sich vom Schwabenland abspaltet und autonomer Regierungsbezirk wird. Bis dahin wird im „Schwarzen Kanal“ aus Gründern der Allgemeinverständlichkeit weiter von Schwaben die Rede sein, fürchte ich.

Es ist schon sonderbar, dass ein Autor persönlich in den Ring steigt, um den eigenen Lesern noch einen rechten Haken zu versetzen. Aber noch sonderbarer ist die Argumentation, denn außerhalb der Spiegel-Redaktion hat sich der Begriff „Schwabe“ keineswegs als „Gesamtbezeichnung“ für die Bewohner Baden-Württembergs durchgesetzt, wie auch die Badische Zeitung und der Mannheimer Morgen völlig zurecht anmerken. Und erst recht eigenartig ist Fleischhauers Rekurs auf die (Berliner) Volksseele:

Ich habe noch nie jemanden in Prenzlauer Berg sagen hören: „Achtung, die Badener kommen!“ Es ist doch nicht vom Badener- Hass- sondern vom Schwaben-Hass die Rede.

Dabei hatte die Leiterin des Spiegel-Leser-Services den Fehler ihres Autors schon eingestanden:

Wir haben uns geirrt. Und Sie haben es gemerkt. SPIEGEL-Redakteur Jan Fleischhauer hat in seiner Kolumne „Der schwarze Kanal“ („Mr Pickelhaube“) über das Bild von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in der Weltöffentlichkeit folgenden Satz geschrieben: „Wie alle Schwaben kann er außerdem rechnen, was nicht brutal, sondern vernünftig ist.“ (…) Auch uns machen Fehler, die im Heft stehen, unglücklich. Denn wir verwenden viel Zeit darauf, für die Richtigkeit aller Fakten, die im SPIEGEL genannt werden, zu sorgen.

Doch mit seiner Richtigstellung belegt Autor Fleischhauer vornehmlich, dass er eines auf keinen Fall wollte, nämlich einen Fehler zugeben. Womit er es dann erst so richtig falsch gemacht hat. Hauptsache, der Leser hat nicht recht! Vielleicht sollte man das mit der User-Partizipation beim Spiegel noch einmal gründlich überdenken. Denn wer, wie der Spiegel, die Wahrheit gepachtet hat, will sich eben vom gemeinen Leser auch nicht dreinreden lassen. Erst recht nicht auf schwäbisch.

Fleischhauer macht Hackfleisch aus Spiegel-Image


03 Dez

spiegel01Eines muss man dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel lassen: Seit seinem Re-Design und der Einführung neuer Rubriken weiß man als Leser noch ein bisschen besser, wo das Magazin steht. Die neu eingeführten Serien sind vor allem meinungsorientierte Darstellungsformen: Ein „Leitartikel“ soll die Redaktionsmeinung widerspiegeln und eine regelmäßige Kolumne, die irgendwo zwischen Glosse und Kommentar changiert und wechselweise von Jan Fleischhauer und Jakob Augstein befüllt wird, soll offenbar irgendwie Verve ins Blatt bringen.

Nun sind bekanntermaßen meinungsorientierte Darstellungsformen unter Journalisten deutlich beliebter als unter Lesern. Die Kommentarseite der Tageszeitung ist meist die erste, die überblättert wird, und die regelmäßigen Kommentare in den ARD-Tagesthemen stellen einen der Tiefpunkte des deutschen Fernsehens dar. Das Problem bei all diesen Schreibversuchen nämlich ist: Wer eine Glosse schreiben will, muss lustig sein. Schon den Streiflicht-Autoren der Süddeutschen Zeitung gelingt das oft nur leidlich. Und wer einen Kommentar verfassen will, muss eine Meinung haben. Auch das gälte es, zu überprüfen. Was den Spiegel da geritten hat, seinen Autoren jenseits des Markenkerns des Magazins, nämlich Nachrichten, das Feld für ihre Debattier-Übungen zu überlassen, bleibt umso fraglicher, wenn man sich die Kolumne von Jan Fleischhauer in dieser Woche ansieht.

Die Spalte trägt die Rubrikenüberschrift „Der Schwarze Kanal“. Schon das ist natürlich unerträglich. „Der Schwarze Kanal“ hieß eine agitatorische Sendung in der DDR von Karl-Eduard von Schnitzler, die wie keine zweite zeigte, dass ein Unrechtsstaat auch nur Unrechtsfernsehen kann. Will der Spiegel-Autor wirklich daran anschließen? Oder was will uns der Dichter sonst mit seinem Kolumnentitel sagen? Wird es vielleicht für Kollegen Fleischhauer erst spaßig, wenn bei anderen der Spaß aufhört?

Nun, mit etwas Nachdenken käme man hier vielleicht auf eine Antwort. Doch das mit dem Denken ist ja gerade das Problem. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man eine Meinung haben. Der Autor des „Schwarzen Kanals“ hat aber keine. Ihm reicht es, die Vorurteile und ideologischen Verbrämtheiten des politischen Lagers, das er selbst wohl für das „schwarze“ hält, zu reproduzieren. Und das klingt dann beim Thema „Rente ab 63“ im Spiegel so:

„Wie man jetzt weiß, bewerben sich für die Nahles-Rente nicht Gerüstbauer und Eisenbieger, denen vor Erschöpfung die Zange aus der Hand fällt, sondern vor allem kerngesunde Facharbeiter, die noch locker ein paar Jahre im Job durchhalten würden“.

Jeder wirkliche „Schwarze“ würde sich schämen, einen solchen sprachlichen und inhaltlichen Nonsens von sich zu geben. Weder statistisch, noch medizinisch lassen sich Fleischhauers vermeintlich starke Worte belegen. Das will er auch gar nicht, denn in Wahrheit sind seine Ungereimtheiten ja ein Vorspiel nur für den eigentlichen Schlag in Manier des „schwarzen Kanal“. Tatsächlich will sich Jan Fleischhauer den präsumtiven „Schwarzen“ andienern, die auf einen solchen Schützenhelfer vermutlich lange gewartet haben, und richtet seine leeren Geschütze darum auf das schlimmstmögliche Übel, das die Republik zu bieten hat, nämlich die SPD:

„Die SPD ist stolz darauf, Arbeiterpartei zu sein. (…) Seit Längerem schon kümmert sich die Partei eher darum, wie man sich der Arbeit entzieht oder sie so gestaltet, dass sie nur ein Übergang zwischen Phasen der Freizeit ist“.

Frucht eifrigen Nachdenkens können solche Äußerungen schwerlich sein: Selbst im neoliberalsten Elysium eines Guido „spätrömische Dekadenz“-Westerwelle würden solch peinliche Floskeln nur mit Agenten-Tinte an die Höhlenwand gekritzelt. Unwillkürlich muss ich mir den Kollegen Jan Fleischhauer als einen fettgewordenen 50er Jahre-Parvenü vorstellen, der jeden Arbeitslosen für einen Faulenzer hält und mit dem Hähnchenschenkel in der Hand über nichtstuende Studenten und sozialschmarotzende Obdachlose schwadroniert, auch wenn das beigefügte Autorenbild für einen durchaus frugaleren Typus spricht. Aber Jan Fleischhauer sollte seine markigen Sätze mal den Arbeitslosen in den strukturschwachen Gebieten Ostdeutschlands oder im vom Strukturwandel gebeutelten NRW erklären. Und Jan Fleischhauer sollte das Ende bedenken, das im Strukturwandel des Printjournalismus bestehen und dem schwarzen Autor in Zukunft eine Menge Freizeit bescheren könnte. Das Ende seiner Kolumne übrigens ruft dann, weil ja auch sonst nichts Vernünftiges zur Verfügung steht, höhere Mächte an:

„Vielleicht sollte man sich in Zukunft wieder mehr am Heiligen Vater orientierten: Franziskus war 76 Jahre alt, als er sein Amt antrat“.

Ich unterrichte Journalistik an einer Kölner Hochschule. Ich bringe dort Studierenden bei, dass alle journalistischen Darstellungsformen faktenorientiert sind, auch die sogenannten meinungsbasierten. Das heißt, auch Kommentare, Kritiken oder Glossen müssen einen sachlichen Kern haben und sollten überprüfbar sein. Jan Fleischhauer vom Spiegel hat sich von dieser Regel weit entfernt. Diese Regel gilt übrigens auch nur bedingt für Blogs. Man könnte also durchaus in einem Blog schreiben, dass Herr Fleischhauer ein kotzreaktionärer Kretin sei, dessen zum Himmel stinkende Papsttümelei nur geistlicher Unrat wäre und dessen verluderte Sprachalmosen Übelkeit erzeugten. Allein, ich würde so etwas niemals tun.

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel war, nach einem Wort seines Gründers Rudolf Augstein, mal „im Zweifel links“. An dem Image wurde von den Spiegel-Mitarbeitern über die Jahre schon heftig gekratzt. Erinnert sei nur an die widerwärtige „Das Boot ist voll“-Metaphorik unter der Überschrift „Ansturm der Armen“ in den 1990er Jahren. Spiegel-Autor Fleischhauer will aber noch einen anderen Beweis antreten: Nicht nur, dass der Spiegel zweifelsfrei nicht „links“ ist, sondern dass unreflektierte reaktionäre Positionen in dem Magazin mittlerweile einen Stammplatz haben. Fleischhauers Kolumne alteriert mit der des Augstein-Erben Jakob, der nach wie vor „im Zweifel links“ sein möchte. Jakob Augstein muss aber überlegen, ob er sich einen Heftteil wirklich mit diesem Autor teilen will. Denn wie sagte einst sinngemäß Hajo Friedrichs: Ein Journalist soll sich mit keiner Sache gemein machen, vor allem nicht mit der schlechten.

ARD will investigativ recherchieren?


19 Feb
Georg Mascolo (Foto: Superbass/Wikimedia)

Georg Mascolo (Foto: Superbass/Wikimedia)

Die Nachricht muss alle irritieren, die mal eine ARD-Sendeanstalt von innen gesehen haben: Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo soll einen „Rechercheverbund“ aus WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung leiten. So erklärt etwa Tom Buhrow, der WDR-Intendant:

„Wir bündeln unsere Kräfte in Hörfunk, Fernsehen und Print und machen den Recherchepool zu einem crossmedialen Vorzeigeprojekt für Qualitätsjournalismus“.

Was an solchen Äußerungen wunder nimmt, ist die Tatsache, dass beispielsweise im WDR bislang praktisch überhaupt niemand recherchiert. Von den ca. 4.900 Angestellten des WDR arbeiten vielleicht etwa die Hälfte im weitesten Sinne im redaktionellen Umfeld. Von diesen redaktionellen angestellten MitarbeiterInnen arbeitet aber nur der kleinste Bruchteil wirklich journalistisch, sprich: recherchiert Themen und verfertigt Beiträge. Mehr als 90 Prozent des Programms werden von freien JournalistInnen recherchiert und hergestellt. Wenn diese eng und regelmäßig mit einer bestimmten Redaktion zusammenarbeiten, heißen sie auch „feste Freie“. Das ändert aber nichts daran, dass diese Freien selbständig unternehmerisch tätig sind, d.h. sie recherchieren ihre Themen auf eigene Rechnung und verdienen dann erst Geld, wenn eine WDR-Redaktion Interesse zeigt und einen TV- oder Radio-Beitrag in Auftrag gibt.

Öffenlich-rechtlich verwalten, privatwirtschaftlich produzieren

Diese Arbeitsweise ist auch nicht neu, sondern gehört im Gegenteil zu den basalen Produktionsbedingungen aller öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Schon seit den 1970er hatte in den Sendern, wie der Fernsehhistoriker Knut Hickethier in seiner Geschichte des Deutschen Fernsehens konstatiert hat, die Produktionsweise sich dergestalt verändert, dass zwar öffentlich-rechtlich verwaltet, aber praktisch rein privatwirtschaftlich produziert wurde. Auf diese Weise ließen sich beispielsweise Mitbestimmungsrechte und auch ein damals unter Fernsehleuten noch verbreiteter kritischer Geist einschränken. Redaktionsstatute, Personalratswahlen und andere Partizipationsformen galten nämlich seit dieser Zeit für genau diejenigen „freien“ MitarbeiterInnen nicht, die seitdem den Großteil des Programms herstellen. Man stelle sich vor: Von Redaktionssitzungen sind diese recherchierenden und produzierenden JournalistInnen etwa im WDR explizit ausgeschlossen! Das bedeutet, wenn Redaktionen zusammensitzen und über Themen, Sendungen und Planungen reden, sind genau diejenigen nicht dabei, die diese Sendungen herstellen. Klingt idiotisch? Stimmt.

Öffentlich-rechtliche Recherchen sind ein Widerspruch

Der Gedanke an öffentlich-rechtliche Recherchen ist darum in mehrfacher Hinsicht ein Widerspruch. Diejenigen, die in diesem System recherchieren, tun das in der Regel als „Freie“ auf eigene Rechnung und im eigenen Interesse. Dabei mit anderen zu kooperieren, ist weder vorgesehen, noch auch für den einzelnen „freien“ Mitarbeiter sinnvoll. Umgekehrt macht auch aus Sicht einer ARD-Anstalt eine innerbetriebliche Rechercherabteilung praktisch keinen Sinn, da sie den gesamten Produktionsprozess des Fernsehmachens auf den Kopf stellen würde. Entsprechend gibt es aus den Reihen der Sender auch „Widerstände“ gegen den von Mascolo geplanten Recherchep0ol. Dabei ist die größte Gefahr für die ARD-Anstalten, dass ein Recherche-Profi wie Georg Mascolo mitbekommen könnte, wie erbärmlich und traurig es um kritische Recherchen in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bestellt ist. Versuche im WDR, analog zu den großen Printhäusern wie Süddeutsche, Handelsblatt oder Stern ein investigatives Rechercheteam zu gründen, scheiterten nach Auskunft von einigen, die in diesen Prozess vor ein, zwei Jahren involviert waren, daran, dass weder Geld, noch Stellen zur Verfügung standen. Wie auch: Stellen für recherchierende JournalistInnen sind öffentlich-rechtlich eben gar nicht vorgesehen.Und wenn der Norddeutsche Rundfunk sich damit brüstet, im Recherchepool zusammen mit der Süddeutschen Zeitung Stories zum „Geheimen Krieg“ ausgegraben zu haben, wäre noch zu fragen, wer genau da „der“ NDR ist, wer für ihn in Wahrheit recherchiert hat und ob man sich nicht vielleicht mit fremden Federn schmückt.

Ist öffentlich-rechtlicher Journalismus noch zu retten?

Natürlich ist er das. Die Frage ist nur, ob es im bestehenden System der checks & balances möglich ist. Kürzlich monierte der PR-Berater Michael Spreng in seinem Blog, die ARD-Anstalten hätten zwar 7,5 Milliarden Euro für ihren öffentlichen Auftrag zur Verfügung, würden aber diesem Auftrag nur noch unzureichend nachkommen:

Medien sollten nicht nur fragen, was die Leute sehen wollen, sondern auch, “was sie sehen sollten”. Das ist die Verantwortung des Journalismus, die immer mehr verloren geht. Das Geld muss raus aus Verwaltung, rein in die Redaktionen.

Mit der letzten Bemerkung irrt Spreng gewaltig. Die Verwaltung beispielsweise des WDR ist eine der wenigen Stellen, die wirklich produktiv arbeitet, wie ich aus eigener langjähriger Erfahrung bestätigen kann. Das Problem sind nicht die Verwaltungen, sondern die Redaktionen. Was man sich als Fernsehmacher wünschen würde, wäre, dass die redaktionellen Etats wirklich für die Fernsehmacher da wären und dass die über das Programm mitbestimmen, die es auch wirklich herstellen. Das etablierte öffentlich-rechtliche System ist eines von Bienendrohnen, die weder fleißig, noch fruchtbar sind, aber dafür teuer. Was hermuss, ist AutorInnenfernsehen und ein effizientes Management, das die Räume für deren Produktionen schafft. Und was aus ZuschauerInnensicht wünschenswert wäre, das wäre mit den Rundfunkräten die Abschaffung eines Pseudo-Kontrollorgans, das sich an der Gesellschaftsschichtung der 1950er Jahre orientiert. Stattdessen muss ein ZuschauerInnen-Parlament her, das für eine echte Mitbestimmung der Gebührenzahler sorgt. Aber ach! vermutlich sind die Zeiten vorbei, in denen das Wünschen noch geholfen hat.

 

Wer sind die Banditen: Politiker oder Journalisten?


02 Okt

Früher hieß es einmal: „Der Geist steht links!“, wenn jemand auf die angeblich vorherrschenden links-liberalen Tendenzen unter deutschen Journalisten abzielen wollte. Heute ist man versucht zu fragen, wieviel Geist überhaupt noch im Journalismus steckt. Zum Beispiel wenn man die vergangenen Wochen der Wahlberichterstattung und die vergangenen Tage der journalistischen Wahlanalysen Revue passieren lässt. Bei den beiden Magazinen Focus und Spiegel jedenfalls scheint, wenn überhaupt Geist im Spiel ist, dann doch derselbe Geist zu herrschen, trotz aller behaupteten Unterschiede in der geistigen Ausrichtung. Wie sonst lässt sich die auffällige Übereinstimmung in den Titelblättern dieser Woche erklären:

Focusspiegelwahl01Kanzlerin und SPD-Vorsitzender als Banditen, die dem armen Bürger das Geld aus der Tasche ziehen wollen? Dass das Steuereintreiben mit Raubrittertum gleichgesetzt wird, ist ein uraltes Vorurteil, das schon im Götz von Berlichingen oder in Kleists Michael Kohlhaas bemüht wird. Das macht es aber natürlich nicht richtiger. Die CDU lehnt Steuererhöhungen nach wie vor ab, während die SPD während des gesamten Wahlkampfs nichts Anderes gesagt hat, als dass sie den Spitzensteuersatz für Gut- und Bestverdiener anheben will. Sie will das übrigens auf gesetzlichem Wege tun und sie hat dafür im Wahlkampf auch einige Argumente gebracht — ob man die gute oder schlecht findet, bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Aber sie deswegen als Räuber darzustellen, ist wohl kein Ausdruck von Politikverdrossenheit, sondern könnte umgekehrt zu Journalismusverdrossenheit führen.

In der heißen Phase des Wahlkampfs haben mir Politiker fast leid getan. Mein Eindruck war, dass sie wirklich gerne über Politik gesprochen hätten, dass aber genau das gerade von Journalisten nicht sehr goutiert wurde. Ich war auf verschiedenen Wahlkampfveranstaltungen der unterschiedlichen Parteien, ich habe „meine“ Kandidaten in unserem Stadtteil getroffen und erlebt und ich habe mir die Spitzenkandidaten und ihre Reden bei größeren Veranstaltungen in Köln angehört. Was ich erlebt habe, waren eigentlich durchweg überlegte Leute, die für ihre Positionen recht gute Argumente vorgetragen haben. Ich fand „in den Medien“ aber leider nur wenig davon wieder. Besonders im Fernsehen schien man doch lieber Wahlkampfpannen, Stinkefingerfotos und Allzumenschliches zu bemühen. Nüchterne Fakten und Zahlen waren da Sache der Journalisten nicht, und wenn, hatten sie große Mühe, sie richtig zu interpretieren. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Angela Merkel hat nicht die Wahl gewonnen. Zur Wahl stehen in der Bundesrepublik Deutschland nämlich nicht Personen, sondern Parteien. Auch die CDU hat nicht „die Wahl gewonnen“, sie hat bislang „nur“ relativ an Stimmen und Sitzen dazugewonnen. Was sie daraus macht und ob Angela Merkel ihre Wahl noch gewinnt, nämlich die im Deutschen Bundestag von der Mehrheit der Abgeordneten, wird sich erst noch zeigen.

Personalisierungen sind vor allem für den Journalismus schön: Denn über Personen erzählt man Geschichten, und Journalisten wollen vor allem Geschichten erzählen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, denn Geschichten sind unterhaltsam, und über die Unterhaltungsfunktion lassen sich dann auch Inhalte und Sachthemen besser an den Mann und an die Frau bringen. Aber wenn man es natürlich bei den personalisierten Geschichten belässt und die Sachverhalte dahinter außen vor lässt, ist das problematisch. Denn der mündige Wahlbürger will zwar vielleicht auch unterhalten werden, er hat aber auch ein deutlich größeres Interesse an den politischen Inhalten, als Journalisten ihm zutrauen. Dass haben beispielsweise die beiden Wahlarena-Sendungen der ARD gezeigt, in der Bürgerinnen und Bürger den Spitzenkandidaten Fragen stellen konnten, und sie haben das ausnahmslos gut getan.

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier hat ein sehr lesenswertes Interview mit dem TV-Zampano Friedrich Küppersbusch geführt. Küppersbuch sieht gerade im Einnehmen einer Haltung das Rettungsboot, mit dem der (TV-)Journalismus sich über Wasser halten könnte. So wie Küppersbusch selbst es in den Wochen vor der Wahl im WDR Fernsehen mit seiner Sendung Tagesschaum vorgeführt hat:

Wir verorten uns in meinem Verständnis nicht zwischen links und rechts, sondern es geht um den Unterschied Haltung / keine Haltung. Und ich glaube, in der Haltung liegt eindeutig das solide aufgepumpte Schlauchboot, in das eines Tages auch die Öffentlich-Rechtlichen hüpfen müssen. Diese ganzen Talkshow-Panels sind doch alle da, damit am Ende der Moderator sagen kann: »Ich gebe Ihnen allen recht.« Da kommst du haltungsfrei durch.

Also, wieder ein bisschen mehr Geist im politischen Journalismus: Das wäre wünschenswert. Auf welcher Seite dieser Geist steht, ist dann fast eher zweitrangig.

P.S.: Ich sehe gerade, dass Stefan Niggemeier auch in seinem Blog sich mit diesen beiden Magazin-Aufmachern beschäftigt und sie zum Teil auch inhaltlich analysiert. Empfehlenswert!

 

Verquere Logik nach Wahldesaster


23 Sep

Das Wahldesaster der FDP bei den Bundestagswahlen 2013 ist auch einigen Journalisten nicht gut bekommen. Wie sonst ließe sich die verquere Logik nachvollziehen, die aus dieser Interpretation von Spiegel Online spricht:

Im Laufe des Vormittags hatten sich in der Partei Stimmen gemehrt, die einen personellen Neuanfang an der FDP-Spitze verlangen. So hatte der scheidende FDP-Bundestagsabgeordnete Jürgen Koppelin ein Duo aus Lindner und dem schleswig-holsteinischen Spitzenkandidaten Wolfgang Kubicki als neue Hoffnungsträger ins Spiel gebracht. „Wenn die beiden wollen, auf jeden Fall“, sagte Koppelin am Montag im Deutschlandfunk auf die Frage, ob diese beiden das Tandem der liberalen Partei der Zukunft bilden könnten.

Wer hat hier nun wen ins Spiel gebracht? Offenbar hat doch wohl der Moderator des Deutschlandfunks die FDP-Politiker Lindner und Kubicki ins Spiel gebracht und dem Interviewpartner blieb wenig anderes übrig, als zu bestätigen. So kann man auch als Journalist Politik machen und Einfluss auf demokratische Entscheidungen nehmen. Ganz ohne Wahlen.

Der „Spiegel“ und die ausgewogene Berichterstattung


11 Mai
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Spiegel-„Opfer“ Trittin (Foto: Wikimedia)

Wer Ausgewogenheit für eine besondere Zierde des Journalismus hält, der sollte sich vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eines besseren belehren lassen. Dort ist in der aktuellen Ausgabe über den Grünen-Spitzenkandidaten Jürgen Trittin zu lesen:

Wenn es darum geht, andere zu belehren, lässt sich Jürgen Trittin ungern übertreffen. Der grüne Spitzenkandidat weiß immer die richtigen Antworten, auch wenn die Fragen noch gar nicht gestellt werden. So hat er sich in den vergangenen Jahren konsequent den Ruf des unerschütterlichen Besserwissers erarbeitet.

Diese Charakterisierung hat durchaus auch etwas Belehrendes, oder?

News is bad for you: Nachrichten machen krank


10 Mai
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Foto: A. Altmann/pixelio.de

Auf Spiegel Online zieht Autor Georg Diez in seiner regelmäßigen Kolumne über die Fernsehnachrichten her, insbesondere “Tagesschau” und ARD.

Drohnen, Merkel, Krise: Die deutschen TV-Nachrichten tun so, als würden sie uns Zuschauer informieren. Tatsächlich stampfen sie uns in die Passivität, sie machen uns dümmer und letztlich uninformierter. (…) Die Sklerose unserer Tage hat ein ideales Medium gefunden, und wir zahlen auch noch dafür. Abend für Abend sitzen wir da, in dieser zeittypischen Mischung aus Selbsthass und Apathie, und lassen uns die Welt glatt bügeln, auf ARD-Art. (…) All das sind Scheinnachrichten, weil so getan wird, als sei das nun der amtliche Ausschnitt der Welt – dabei ist es doch nur staatsnahes Parteien-TV, die üblichen Vertreter der Macht, der Reichstag im Abendlicht plus das eine oder andere Erdbeben: Das eben, was Journalisten für wichtig halten, die selbst nicht wissen, warum das so ist.

Spiegel-Autor Diez kennt aber auch das Gegenmittel. Es ist der „engagierte Journalismus” (wenn er ihn auch nicht beim Namen nennt). Vorbildhaft ist da für ihn die BBC.

BBC macht das immer mal wieder vor, wie intelligenter, diskursiver Fernsehjournalismus geht: mal emotional und nah, wenn etwa ein Reporter in das Zimmer führt, wo sich ein altes italienisches Ehepaar erhängt hat, weil es seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, und man sich als Zuschauer mehr mit der Euro-Krise beschäftigt als nach hundert Rolf-Dieter-Krause-Kommentaren aus Brüssel (…).

Diez’ Kritik ist zwar naheliegend, aber doch sehr verkürzt. Am speziellen Format von Nachrichten und insbesondere Fernsehnachrichten wurde in der Vergangenheit schon häufiger verheerende Kritik geübt. Diez selbst zitiert in seiner Spiegelkolumne den Schweizer Autor Rolf Dobelli. Der Schweizer hat an verschiedenen Publikationsorten bereits seine Thesen zum Thema “News is bad for you” zum besten gegeben.

Wozu brauchen wir dann überhaupt Nachrichten? Und was sind Nachrichten? Der kluge Schweizer Rolf Dobelli hat vor Kurzem das Konzept von Nachrichten ganz grundsätzlich kritisiert, in seinem Manifest „News is bad for you“ erklärt er unter anderem, warum diese Art von Nachrichten uns früher sterben lassen, warum diese Art von Nachrichten uns zu falschen Entscheidungen verleiten, warum diese Art von Nachrichten uns dümmer und letztlich uninformierter machen – all das hat mit der Frage zu tun, was eine Nachricht ist.

Naja, “vor kurzem” erschien nur die Zusammenfassung im englischen Guardian. Der Essay selbst ist schon seit 2011 auf Dobellis Website zu lesen. Dobellis Kritik ist denn auch drastischer. Er will nicht anderen Nachrichtenjournalismus, sondern keinen:

Leben Sie ohne News. Klinken Sie sich aus. Radikal. Erschweren Sie sich selbst den Zugang zu News, so gut es geht. Löschen Sie die News-Apps auf Ihrem iPhone. Verkaufen Sie Ihren Fernseher. Greifen Sie nicht nach Zeitungen und Zeitschriften, die in Flughäfen und Zügen herumliegen. Lenken Sie Ihren Blick von den Schlagzeilen ab.

Und der sehr geschätzte Walter van Rossum berichtete schon vor einigen Jahren, wie die Tagesschau “in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht”.

News is bad for you – and giving up reading it will make you happier | Media | The Guardian

Spiegel, Kampagnenjournalismus und die Militarisierung der Außenpolitik


29 Mrz

Den großen medialen Erfolg des Anti-Kriegs-Dreiteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“ im Zweiten Deutschen Fernsehen hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu einer Titelgeschichte veranlasst, die sich mit der Remilitarisierung der bundesdeutschen Außenpolitik befasst und paradoxerweise Pro-Kriegs-Positionen einnimmt. Darin heißt es:

Ob aus Überzeugung oder aus Angst vor dem Wähler — unter Führung von Angela Merkel und Guido Westerwelle ist die deutsche Außenpolitik zur alten, unmündigen Unsicherheit zurückgekehrt. Die Enthaltung in Libyen, das Minimalprogramm in Mali, die Passivität in Syrien — um jeden Preis geht es darum, ein militärisches Engagement zu vermeiden.

Um Berichterstattung und die wertneutrale Vermittlung der Realität, wie es einem „Nachrichtenmagazin“ ziemen würde, handelt es sich bei diesem Absatz (und dem ganzen Artikel) nicht. Was vorliegt, ist stattdessen eine Aneinanderreihung von wertenden und normatiefen Sätzen. Auch wertende Sätze enthalten natürlich beschreibende und damit empirisch nachprüfbare Bestandteile. Mit dieser Überprüfung allerdings hält der „Spiegel“ sich nicht lange auf. Sonst wäre schließlich zu fragen, wie die militärischen Kampagnen in Afghanistan, in Somalia oder im Kosovo zu Demokratie und Wohlfahrt der dortigen Bevölkerungen beigetragen hätten. Und in praktisch jedem Fall wäre die Antwort wohl negativ. Was übrig bleibt, ist Kampagnenjournalismus der plumperen Sorte. Das bemerken auch die „Nachdenkseiten“ und bemerken:

Der Spiegel macht sich zum Sprachrohr derjenigen, die das im Grundgesetz verankerte Prinzip einer Verteidigungsarmee umdefinieren möchte und die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee machen will. Deutschland müsse seine wirtschaftliche Machtstellung auch militärisch wahrnehmen. Deutschland soll, wie schon einmal in den unheilvollen Kapiteln seiner Geschichte, wieder seinen „Platz an der Sonne“ anstreben und die Machtpolitik, die es wirtschaftspolitisch derzeit in Europa mit der Durchsetzung der Agenda-Politik ausübt auch militärisch einsetzen. Der Spiegel propagiert das alte Weltmachtstreben, das Deutschland schon einmal zum Verhängnis wurde.

Es liegt noch keine kommunikationswissenschaftliche Definition des Begriffs Kampagnenjournalismus vor. Es gibt zu dem intrikaten Begriff aber einige kluge, auch: journalistische Stellungnahmen. Zum Beispiel diese:

Und längst kosten auch andere als das „Drecksblatt“ („SZ“-Preisverächter Hans Leyendecker über „Bild“) die süße Frucht der Bedeutung und das bittere Gift der Anmaßung, die im Kampagnenjournalismus liegen.

Und wer hat es geschrieben? Es war Jakob Augstein in seiner Kolumne für Spiegel Online.

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter