In seinem Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“ bietet der Kulturphilosoph Walter Benjamin in einem einzigen Satz eine komplette Geschichte des Journalismus:
Historisch besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der älteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt sich die zunehmende Verkümmerung der Erfahrung wider.
Benjamin skizziert hier den Journalismus vor allem des 19. Jahrhunderts, denn mit dem kennt er sich am besten aus. Sein berühmt-berüchtigtes „Passagenwerk“, seine Arbeiten zu Baudelaire, seine „Berliner Kindheit um 1900“: Alles Arbeiten, die seine Verwurzelung und seine Herkunft aus und im 19. Jahrhundert repräsentieren. Auch die zitierte Charakteristik in seinem Baudelaire-Aufsatz bezieht sich vornehmlich auf die französische Presselandschaft des vorvergangenen Jahrhunderts. Dennoch ist seine „Kurz“-Geschichte des Journalismus so aktuell wie furios: „Relation“ nannten sich die ersten periodisch erscheinenden Blätter anfangs des 17. Jahrhunderts, der Geburtsstunde des europäischen Pressewesens. Der Journalismus, der hier entstand, war aber noch kein informationsorientierter, sondern ein korrespondentenorientierter, der publizierte, was eben kam. Und das ware viel Buntes, wenig Überprüfbares, selten Relevantes. Erst der „literarische“ und „wissenschaftliche“ Journalismus des, aufgeklärten, 18. Jahrhunderts (gemäß jener, wiederum umstrittenen, historischen Einteilung von Baumert aus dem Jahr 1928) brachte publizistische Standards, die aus der „Relation“ eben „Information“ machte. Die technologische Entwicklung im frühen 19. Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfschnellpresse und vor allem der Rotationsmaschine, machte Auflagen möglich, die eine Orientierung am Massengeschmack ihrerseits erst (wirtschaftlich) sinnfällig erscheinen ließen: die Information wird zur Sensation, der Sensationalismus wird geboren. Dass wir diesen Typus von popular paper bis heute auch mit seiner französischen Bezeichnung als Boulevardpresse bezeichnen, kommt nicht von ungefähr. Benjamin hebt aber noch auf etwas Anderes ab: Ihm geht es darum, wie Erfahrungen, ganz alltägliche Erfahrungen medial gespiegelt werden. Dabei setzt er sich insbesondere mit der, zu jener Zeit sehr aktuellen, „Lebensphilosophie“ auseinander, so allerdings, dass er sie beinahe in die Nähe des Faschismus rückt:
Man pflegt diese Vorstöße unter dem Begriff des Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus. Sie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk „Das Erlebnis und die Dichtung“ ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit klages und mit Jung, der sich dem Faschismus verschrieben hat.
Benjamin hält dem den „echten“ Erzähler“ und seinen ganz eigenen Literaturbegriff entgegen, geschult an Bergsons Theorie der Erfahrung und an Marcel Prousts monumentalen Romanwerk „A la recherche du temps perdu“. Vielleicht ist aber Benjamins Diskreditierung der Lebensphilosophie, die er noch vor der eigenen Erfahrung des Nazi-Terrors formulierte, auch überzogen. Immerhin geht die „Lebensphilosophie“ genannte Denkschule auf keinen geringeren als Johann Wolfgang Goethe zurück …
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum (Faust I, Studierzimmer)
… und hat mit Friedrich Nietzsche einen Ahnherrn, den auch die Vertreter der Frankfurter Schule, zu denen Benjamin im weiteren Kreis zu zählen ist, gerne bemühten. Und die Grundfrage, die sich in der heutigen Mediengesellschaft so dringlich stellt, wie Jahrzehnte zuvor: Müssen wir angesichts einer ausschließlich medialen Repräsentation von Wirklichkeit (Luhmann) nicht das Leben von den Medien zurückerobern? Müssen wir nicht das Leben gegen die Medien ausspielen? Brauchen wir nicht statt einer Medienphilosophie in der Tat eine neue Lebensphilosophie?
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